Politik

Bei der Münchner Regionalkonferenz trafen 60 Bürger auf zehn Politiker. (Foto: Mehr Demokratie)

19.07.2019

Bürger beraten Politiker

Modellprojekt mit ehrgeizigem Ziel: Ein Bürgerrat soll Wege aus der Demokratiekrise suchen

Wie die Demokratie stärken in einer Zeit voller Zweifel, Verdrossenheit und Enttäuschung? Der Verein „Mehr Demokratie“ setzt in der Krise auf die Kraft eines Bürgerrats. Zum Abschluss der ersten Phase eines deutschlandweit einmaligen Modellprojekts trafen diese Woche Politiker und Bürger zur Regionalkonferenz in München zusammen.

Die Idee stammt aus Irland: Dort diskutieren in der Citizen´s Assembly per Los ausgewählte Bürger mit Politikern und Experten über umstrittene Themen, entwickeln Empfehlungen und bereiten so allgemeine Abstimmungen vor. Ob Schwangerschaftsabbruch oder gleichgeschlechtliche Ehe: Die Referendumsergebnisse stoßen regelmäßig auf breite Akzeptanz. Auch in Kanada, Australien oder den Niederlanden hat man in solchen „Mini publics“ (kleinen Öffentlichkeiten) Lösungen für politische Fragen erarbeitet.

„Unser politisches System steht unter Druck, und eine Kluft zwischen Parlament und Bürgerschaft tut sich auf. Irland lebt uns gerade lebendige Demokratie vor: Dort arbeiten bereits Parlament, Bürgerräte und direkte Demokratie vorbildhaft zusammen und erreichen befriedende Lösungen in strittigen Fragen“, so Claudine Nierth, Vorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie und Mit-Initiatorin des Bürgerrats.

260 Männer und Frauen haben sich aktiv um einen Platz in der Münchner Regionalkonferenz beworben, 60 wurden eingeladen, dazu zehn Politiker. Als Zeichen, dass der Bürger im Zentrum steht, ließ Michael Kuffer, Bundestagsabgeordneter der CSU, zu Beginn der Veranstaltung die Begrüßung der Mandatsträger einfach weg. Zur Zeit, so Kuffer in seiner Rede, ereigne sich eine hoffnungsvolle Belebung und Auffrischung der Demokratie – einerseits. Schließlich bringen sich immer mehr Bürger – siehe Fridays for Future – engagiert in gesellschaftliche Debatten ein. Andererseits werde die Demokratie auch stark herausgefordert. Hassreden im Bundestag, Fake News im Netz: Das macht den Dialog nicht einfach. Kuffer betonte jedoch die guten Erfolge, die man mit Volksbegehren und Volksentscheiden in Bayern gemacht habe, „das ist ein starkes Instrument“. Und erinnerte daran, dass sich die CSU für bundesweite Volksentscheide ausspricht. Bis dahin sei es aber ein weiter Weg. Und kompliziert sei es auch: „Ein schlecht gemachtes Referendum kann ein Volk spalten, siehe Brexit.“

Mitunter gibt es heftige Debatten an den Tischen

Dass Kuffer ebenso wie Vertreter anderer Parteien an diesem Abend mit den Bürgern an einem Tisch saß, gehört zu den Besonderheiten des Projekts. Unter anderem da waren die Bundestagsabgeordneten Margarete Bause (Grüne), Florian Pronold (SPD) , der Landtagsabgeordnete Uli Henkel (AfD) und der bayerische Linken-Chef Ates Gürpinar.

Engagierte Bürger haben sich mit Politikern bereits in Erfurt, Schwerin, Koblenz, Gütersloh und Mannheim eingefunden. Gemeinsam wurden an großen Wirtshaustischen Fragen vorbereitet, mit denen sich der eigentliche Bürgerrat im September befassen soll: eine zentrale Veranstaltung in Leipzig, die großen organisatorischen Vorlauf verlangt. Denn anders als die Teilnehmer der Regionalkonferenzen bewerben sich die Mitglieder des Bürgerrats nicht selbst um den Posten.

Vielmehr werden Zufallsstichproben aus den kommunalen Einwohnermelderegistern gezogen und per Losverfahren 5000 Leute eingeladen. Altersuntergrenze: 16 Jahre. Da der Rücklauf auf solche Anschreiben meist gering ist (die Veranstalter sprechen von drei bis fünf Prozent), sucht man eine Weile, bis man eine repräsentative Gruppe von 160 Personen beisammen hat.

Die soll dann an vier Tagen Empfehlungen erarbeiten, welche am 15. November der Politik übergeben werden. Es folgt die Umsetzungsphase, in der verschiedene Beteiligungsformate erprobt werden sollen – begleitet von Bürgern und Bürgerinnen.

Ein ehrgeiziges Projekt, nicht unaufwendig und, anders als in Irland, erst mal recht sperrig. Denn während dort stark emotionalisierte und ziemlich griffige Themen diskutiert wurden, geht es im Bürgerrat Demokratie um Fragen, die so auch im Sozialkundeunterricht gestellt werden könnten. Was sind die Vorteile der repräsentativen Demokratie? Was fordert die Demokratie heraus? Was ist von Bürgerbeteiligung zu halten? Was von direkter Demokratie? Ob Bürger, die per Losverfahren ausgewählt werden, den nötigen Schwung mitbringen, vier Tage lang über solche Feinheiten zu diskutieren, bleibt abzuwarten.

Die Männer und Frauen allerdings, die sich freiwillig meldeten, sind voller Energie. An allen Tischen eifriges Plaudern. Auf gelben und hellblauen Zetteln werden die Stärken und Schwächen der repräsentativen Demokratie diskutiert. Und auch wenn die Teilnehmer ganz unterschiedliche Dinge umtreiben – den einen nerven „Abhängigkeit von der Hochfinanz“ und die Auslandseinsätze der Soldaten, die andere zürnt über emotionale Schnellschüsse im Internet –, kommt man schließlich doch auf mehrere gemeinsame Nenner.

Eine super Stimmung habe am Tisch geherrscht, sagt der eine in der Abschlussrunde, es habe heftige Debatten gegeben, findet der andere – und scheint damit gar nicht unzufrieden. Viele versprechen sich von bundesweiter Mitbestimmung größere Zufriedenheit der Bürger. Der Begriff Selbstwirksamkeit fällt häufiger, also das Gefühl, mit eigenem Handeln etwas zu bewirken. Man wünscht sich mehr Transparenz. Schlägt vor, den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Regt regelmäßige Bürgerrunden an. Viele finden: Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die hier leben, sollten mitbestimmen können. Methoden der Konsensfindung sollten erlernt, politische Bildung vorangetrieben, Informationen für alle in einfachster, verständlicher Form vermittelt werden. Ein Volksbegehren auf Bundesebene wird gewünscht. Und, nicht zuletzt, von der Politik gefordert, auch wirklich umzusetzen, was der Bürgerrat vorschlägt. Denn Bürgerbeteiligung als Feigenblatt – das wäre tatsächlich ein böser Rückschlag. (Monika Goetsch)

Kommentare (1)

  1. Garry am 16.08.2019
    Vielleicht könnte auf diesem Wege das Grundeinkommen für Alle eingeführt werden, wie es lt. seriösen Umfragen inzwischen ca. 62% unserer Mitbürger gewünscht wird, indem man den Bundestag auffordert mit Hilfe des Wissenschaftlichen Dienstes einen Gesetzentwurf einzubringen, der als individueller Rechtsanspruch die Existenz des Einzelnen sichert, gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht ohne Bedürftigkeitsprüfung und Zwang zu Arbeits- oder anderen Gegenleistungen, wobei ein als in der Höhe gerecht empfundenes Grundeinkommen der Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft entsprechen sollte. Damit würde auch die Vorgabe unseres Grundgesetzes nach der unantastbaren Würde des Menschen erfüllt!
    Das könnte unverzüglich durch eine negative Einkommensteuer, die es jedem Bürger freistellt sich dafür zu entscheiden, umgesetzt und jederzeit sich ändernden Verhältnissen angepasst werden.
    Der amerikanische Finanzminister zu Kennedys Zeiten hatte ein ähnliches Gesetz bereits abstimmungsreif vorliegen und hält heute Vorträge über diese Möglichkeit.
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