Politik

„Bitte nicht herumeiern!“: Die Zahlen, mit denen der Kultusminister jongliert, habe sie noch nicht ganz verstanden, sagt Simone Fleischmann. (Foto: BLLV)

31.07.2020

"Dann sind wir wieder die Deppen"

Simone Fleischmann, Präsidentin des Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), über Schule nach den Sommerferien und die Gefahr, wenn Politiker falsche Erwartungen wecken

Für Simone Fleischmann steht außer Frage: Die Art, wie in der Pandemie zuletzt die Schule organisiert wurde, verursacht bei den Kindern Schäden. Auch, was die emotionale und soziale Entwicklung angehe. Und doch ist die 50-Jährige skeptisch, ob die Schulen im Herbst zum Regelbetrieb zurückkehren können. Ihre Hauptforderung an die Politik: ehrlich sein und keine falschen Erwartungen wecken.

BSZ Ohne die Ferienstimmung trüben zu wollen: In ein paar Wochen geht die Schule wieder los. Erwartet uns dann eine Fortsetzung des Chaos der letzten Monate?
Simone Fleischmann Das können wir Lehrerinnen und Lehrer natürlich nicht bestimmen. Immerhin sind wir diesmal besser vorbereitet. Eine kleine Trainingsstrecke hatten wir ja. In jedem Fall müssen wir uns auf weitere Einschränkungen einstellen.

BSZ Ministerpräsident Markus Söder gibt sich betont skeptisch, was eine Rückkehr zum Regelbetrieb angeht, Kultusminister Michael Piazolo stimmt uns geradezu darauf ein – Eltern werden also auch weiterhin nicht wissen, woran sie sind?
Fleischmann Es klingt vielleicht hart, aber wir müssen lernen, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Das betrifft ja nicht nur die Schule, sondern unser gesamtes Leben. Ich glaube, Söder und Piazolo bilden ganz gut die beiden Pole ab, zwischen denen sich das Spektrum erstreckt, wie es weitergehen wird – irgendwo zwischen diesem „Das wird schon werden!“ und dem Shutdown. Wir wissen es halt einfach nicht. Meine Forderung an die Politik ist deshalb vor allem, ehrlich zu sein und keine Erwartungen zu wecken, die dann nicht erfüllt werden können.

BSZ Aber Sie müssen doch selbst Vorstellungen haben, wie es weitergehen soll.
Fleischmann Natürlich wollen wir so viel Live-Unterricht wie möglich. Das fordern wir seit Beginn der Corona-Krise. Nur: Wir wissen eben nicht, wie viel möglich sein wird. Entscheiden müssen das die Politiker auf Grundlage der Empfehlungen der Virologen und anderer Experten. Wir selber können nur die politischen Vorgaben umsetzen, und selbst das wahrscheinlich nur halbscharig. Wir werden es bestimmt nicht allen recht machen können. Aber das kann Schule nie.

BSZ Bei vielen Eltern geht es gar nicht mehr ums „recht machen“, die sagen, sie können einfach nicht mehr. Die haben keinen Urlaub, keine Nerven mehr.
Fleischmann Diese Eltern verstehen wir zu 100 Prozent. Wir sind ja selber verzweifelt, weil die meisten von uns selber Eltern sind, so ganz fern der Gesellschaft sind wir nicht. Und natürlich ist es unser Wunsch, so viel Unterricht zu leisten wie nur irgend möglich. Das wollen wir ja alle. Aber wir haben halt noch keinen Impfstoff. Und wenn die Infektionslage so ist, dass wir Abstände wahren müssen, dass wir halbe Gruppen unterrichten sollen, dann können wir nicht den vollen Regelbetrieb bieten.

"Ich will nicht in der Haut der Politiker stecken"

BSZ Kommen wir dann nicht irgendwann an den Punkt, wo wir abwägen müssen zwischen dem Risiko des Virus und dem Schaden, den die Schutzmaßnahmen anrichten?
Fleischmann Doch. Diese Frage stelle ich mir auch. Aber wer gibt die Antwort? Es ist ja interessant: Ob Lehrer, Eltern, Schüler oder Politiker –  wir sind uns in der Analyse alle einig, sehen dieselben Probleme, haben dieselben Befürchtungen und dieselben Wünsche. Und so etwas ist selten. Und trotzdem wird es am Ende Entscheidungen geben, die auf Kosten von jemandem gehen werden. Die höchste Priorität muss die Gesundheit haben. Und sobald wir Menschenleben retten müssen, bleibt vieles andere auf der Strecke. Natürlich verursacht die Art, wie wir zuletzt Schule organisiert haben, bei den Kindern Schäden – gar nicht nur beim Erwerb von Wissen, sondern vor allem was die emotionale und soziale Entwicklung angeht. Da wird es Langzeitfolgen geben, die haben wir noch gar nicht auf dem Schirm. Aber wir müssen mit den Entscheidungen der Politik umgehen – ganz gleich, ob uns das schmeckt oder nicht. Und ganz ehrlich: Ich will nicht in der Haut derer stecken, die diese Entscheidungen treffen müssen.

BSZ Können wir davon ausgehen, dass es komplette Schulschließungen nach den Ferien nur noch punktuell und für kurze Zeit geben wird?
Fleischmann Ja. Das kann aber dann auch dazu führen, dass eine Schule Regelbetrieb hat, die nächste Schule hat – vielleicht nur 20 Kilometer entfernt – Halbzeitbetrieb, und eine dritte muss schließen. Und da sind wir jetzt am Kern der Diskussion: Bis dato herrschte ein Mythos der Gleichheit in Bayern. Man ging davon aus, dass in der 4c in Schweinfurt genau derselbe Unterricht passiert wie in der 4b in Schwabing und in der 4a in Schweitenkirchen. Wir haben gemeint, überall stopfen wir bei den Kindern oben das Gleiche rein, und unten kommt das Gleiche raus. In Wirklichkeit jedoch hatten wir zwar überall dieselben Lehrpläne, aber nirgends denselben Unterricht. Diesen Mythos hat Corona als solchen entlarvt. In so einer Situation kommen halt die Schwächen eines Systems besonders krass zutage. Jetzt müssen wir lernen, mit der Ungleichheit umzugehen.

BSZ Ich höre da bei aller Kritik auch ein wenig Hoffnung heraus.
Fleischmann Das stimmt. Ich sehe schon eine Chance, dass da Lerneffekte bleiben könnten. Die Frage ist nur, ob der Wunsch nach Normalität, nach einer Rückkehr zur vermeintlich guten Zeit vor Corona, nicht zu groß ist. Wir bleiben jedenfalls dran. Wir sehen doch, dass die bloße Leistungsorientierung nicht das Gelbe vom Ei ist. Wir haben ja immer noch diesen Wahnsinn des bulimischen Lernens: Reinfressen, rauskotzen, nichts zunehmen. Wenn die Kinder im Leben bestehen sollen – und das mussten sie in dieser Krise –, müssen wir das Lernen ganz anders organisieren. Wir brauchen eine ganzheitliche Bildungsphilosophie und müssen den Kindern beibringen, selbstständig zu lernen.

BSZ Nun war die Situation an den bayerischen Schulen ja auch vor Corona schon angespannt. Anfang des Jahres hieß es beispielsweise, es fehlten 1400 Stellen; jetzt sagt Piazolo, die Bedarfslücke sei geschlossen. Also alles bestens?
Fleischmann Das wüsste ich auch gern. Noch habe ich die Zahlen nicht ganz verstanden, mit denen Piazolo da jongliert. Ich warne jedenfalls davor, jetzt rumzueiern. Damit schafft man nur eine Erwartungshaltung, die die Lehrer, die dann da sind, nicht erfüllen können. Dann sind wir wieder die Deppen vor Ort. Und das haben wir leid. Ich sage immer: Wir können nur so viel geben, wie wir sind. Das ist zwar grammatikalisch falsch, aber genau so sieht’s aus.

BSZ Jetzt fallen ja auch noch die Lehrer weg, die zur Risikogruppe gehören. Für sie will Piazolo ein Hilfslehrer-Bataillon aussenden. Eine gute Idee?
Fleischmann Ja, klar. Die Idee ist gut – wenn man sie umsetzen kann. Diese Menschen muss man ja erst mal finden. Das ist an der Grundschule in Unterhaching vielleicht möglich, und dann ist das auch wunderbar. Die Kollegin, die eine Mittelschule in einem sozialen Brennpunkt leitet, wird aber wahrscheinlich nichts davon haben. Deshalb ist das für mich in erster Linie Show-Politik.

BSZ Sie waren am vergangenen Freitag beim Digitalgipfel im Kultusministerium – ein großer Schritt auf dem Weg zur digitalen Schule?
Fleischmann Alle haben genau erkannt, wo es krankt. Das ist schon mal sehr gut. Die Ansätze der Staatsregierung sind auch prima, jetzt soll an den richtigen Stellen richtig viel Geld investiert werden. Aber die Umsetzung wird noch dauern. Im September wird da an den Schulen noch kaum etwas spürbar sein. Das ist ein Marathon und kein Sprint, den man jetzt mal eben während der Ferien läuft.

BSZ Den Startschuss zu dem Marathon hätte man aber schon etwas früher geben können, oder?
Fleischmann Klar hätte man so eine Ansage schon vor zwanzig Jahren gebraucht, den Anschub hat halt jetzt Corona ausgelöst. Aber: Hätte, hätte, Fahrradkette! Es hilft ja nichts, zurückzuschauen, jetzt geht’s weiter!

BSZ
Aber der milliardenschwere Digitalpakt ist ja nun schon ein Jahr vor Corona gestartet. 2019 wurden allerdings nicht einmal ein Prozent der Mittel abgerufen. Meinen es alle Beteiligten wirklich ernst mit der Digitalisierung?
Fleischmann Wir Lehrer lassen uns da zumindest nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Dieses Spiel haben wir satt. Das ist ja genau das Problem, dass immer alle den anderen die Verantwortung zugeschoben haben: Die kommunalen Spitzenverbände haben gesagt, die Lehrer müssten mal in die Puschen kommen. Und die haben gesagt: Wir haben die Konzepte geschrieben, warum können die Gemeinden das Geld nicht abrufen? Die Schulleiter haben sich über die Schwerfälligkeit des Kultusministeriums beschwert ...

BSZ Aber wo liegt denn nun der Hund begraben?
Fleischmann Genau in der Mitte! Bei eben diesem Hin-und-her-Geschiebe. Deshalb ist es richtig, wenn Söder damit jetzt aufräumen will. Ein externes, top ausgebautes Rechenzentrum, eine Serviceagentur, die das ganze Geld zentral verwaltet, Endgeräte, die dann auch sinnhaft sind und dort zum Einsatz kommen, wo sie auch wirklich benötigt werden, die Bayern-Cloud – das sind alles richtige Ansätze. Es reicht halt nicht, eine Kiste mit Tablets in eine Schule zu schicken. Ein iPad musst du nutzen können, im Internet musst du dich zurechtfinden. Da gehört nicht nur technisches Know-how, sondern auch Medienkompetenz dazu. Wie können wir die digitale Struktur effektiv, aber auch verantwortlich nutzen? Das ist doch die Frage der Zukunft. Und um gleich noch mit einem Vorurteil aufzuräumen: Auch die Lehrerinnen und Lehrer wollen modernste Technik im Unterricht nutzen und nicht mit dem Unterrichtsmaterial von vor 20 Jahren in die Klasse gehen.
(Interview: Dominik Baur)

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