Politik

25 000 Menschen demonstrierten Anfang Juni auf dem Münchner Königsplatz gegen Rassismus. (Foto: dpa/Peter Kneffel)

03.07.2020

"Das Grundgesetz gilt für uns bisher nur eingeschränkt"

Raphael Dernbach von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland über Rassismus, das N-Wort und die Konsequenzen aus den Black-Lives-Matter-Demos

In der Politik, in der Wirtschaft, ja sogar in Fernsehstudios und Schulbüchern: Rassismus ist tief in den Köpfen verankert, klagt der Münchner Raphael Dernbach von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Vielen ist ihr diskriminierendes Verhalten noch nicht einmal bewusst. Er fordert eine grundlegende Aufarbeitung. 

BSZ: Herr Dernbach, die Großdemonstrationen der Black-Lives-Matter-Bewegung haben das Thema Rassismus auf die politische Agenda katapultiert. Gibt es schon Verbesserungen für die schwarze Community?
Raphael Dernbach: Nein, wahrscheinlich ist die Politik noch mit Corona beschäftigt. Dabei täte die Beschäftigung mit dem Thema dringend not. Während sich alle mit George Floyd solidarisch zeigen, wird die Grünen-Europaabgeordnete Pierrette Herzberger-Fofana aus Erlangen in Brüssel von der Polizei rassistisch angegriffen. Ich glaube nicht, dass eine 71-jährige weiße Frau von Polizisten zwischen den Beinen nach Drogen gefilzt worden wäre. Wir werden daher weiter demonstrieren, damit das Thema nicht von der Agenda verschwindet. 

BSZ: Die Polizei sagt, wenn an Drogenschwerpunkten Schwarze dealen, würden in dieser Gegend eben keine Blondinen, sondern verstärkt Schwarze kontrolliert. Das klingt zunächst logisch.
Dernbach: Ich kenne mich mit Drogen und Drogenschwerpunkten nicht aus. Aber: Die Aussage banalisiert das Problem. Natürlich wollen wir keine Drogen in der Stadt. Schwarze Menschen gehen allerdings mit Angst auf die Straße, weil sie permanent kontrolliert werden, auch im Zug oder bei der Fahrt in den Urlaub. Ich möchte in München nicht von der Polizei vom Fahrrad gezogen und vor den Augen der Passanten abgeführt werden, weil ich auf dem Weg zum Entspannen im Englischen Garten meinen Ausweis vergessen hatte. Nur weil es häusliche Gewalt häufiger von Männern gibt, werden zum Beispiel nicht permanent Männer von der Polizei angehalten und befragt, was sie hier tun, ob sie ihren Ausweis dabeihaben und wie sie zu Hause Frauen und Kinder behandeln – und gegebenenfalls zur Polizeiwache abgeführt mit Leibesvisitation.

BSZ: Sehen Sie einen strukturellen Rassismus bei der Polizei in Deutschland?
Dernbach: Das hängt von der Definition ab. Das Problem ist, dass unsere Gesellschaft rassistisch geprägt ist, sich aber kaum damit auseinandergesetzt hat. Der Nationalsozialismus wurde grundlegend aufgearbeitet, darüber wird auch an den Schulen gelehrt. Dass Deutschland aber zum Beispiel Anfang des 20. Jahrhunderts beim Völkermord an den Herero und Nama in Namibia eine Million Menschen, meist Zivilisten, auch wehrlose Kinder, in die Wüste getrieben und dem Tode ausgesetzt oder erschossen hat – darüber wird eher selten gesprochen. Das sind Themen, die aufgearbeitet werden müssen. Rassismus hat sich seit dem Kolonialismus im gesellschaftlichen Unterbewusstsein verfestigt.

BSZ: Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat Anfang des Jahres geurteilt, das Wort „Neger“, also das N-Wort, sei nicht generell abwertend. Können Sie die Entscheidung nachvollziehen?
Dernbach: Das N-Wort ist für schwarze Menschen rassistisch und herabwürdigend. Es ist Teil des Kolonialismus, der sich in der Sprache verfestigt hat. Weiße Leute haben den Luxus, darüber zu diskutieren, wir nicht. Natürlich gibt es Regelungen, wie Recht funktioniert. Wir müssen uns aber fragen, ob das der richtige Weg ist. Sollte ein Gericht, in dem nur weiße Menschen sitzen, darüber urteilen, was schwarze Menschen als rassistisch empfinden? Wir befinden uns diesbezüglich auf dem Stand wie bei der Gleichbehandlung von Männern und Frauen vor 100 Jahren.

BSZ: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) nannte Schlagersänger Roberto Blanco 2015 einen „wunderbaren Neger“, es sollte ein Kompliment sein.
Dernbach: Nett gemeinter Rassismus bleibt Rassismus. Wenn ich jemanden auf der Straße auf den Boden stoße, hilft es ihm ja auch nicht, wenn ich sage, es war nicht böse gemeint. Wir haben am Samstag dafür demonstriert, dass die Stadt München das N-Wort endlich als rassistisch anerkennt – Köln ist da schon weiter. Das N-Wort ist für schwarze Menschen nicht verhandelbar, ob unser Land das akzeptiert oder nicht – so wie die Anerkennung der Shoa für jüdische Menschen nicht verhandelbar ist.

"Eine Parteizugehörigkeit schützt nicht davor, rassistisch zu sein. Egal ob bei der CSU oder den Grünen."

BSZ: Bei einer grün-roten Stadtverwaltung wie in München stoßen Sie mit Ihrer Forderung doch sicherlich auf offene Türen?
Dernbach: Das würde ich so nicht sagen. Eine Parteizugehörigkeit schützt nicht davor, rassistisch zu sein. Es gibt bei der CSU oder den Grünen nicht mehr oder weniger Menschen, die Frauenrechte mit Füßen treten oder antisemitisch sind. Rassismus ist in unserem Grunddenken etabliert, wir wachsen damit auf. Meine Tochter bekommt Magenschmerzen, wenn sie manche Schulbücher aufschlägt. Gleiches gilt für Märchenbücher oder philosophische Schriften. Nur weil die Autoren womöglich keine Rassisten sind oder sich selbst nicht so sehen, schützt das nicht davor, dass sie sich rassistisch äußern oder rassistisch handeln. Jeder kann und, wie ich finde, sollte sich hinterfragen. Das ist der Auftrag an eine Gesellschaft des Artikel 1 im Grundgesetz. Dieser Artikel hat keine Einschränkungen. Er ist nicht verhandelbar.

BSZ: TV-Moderatorin Sandra Maischberger hat beim Talk über Rassismus zunächst keinen schwarzen Studiogast eingeladen. Sind People of Color in den Medien unterrepräsentiert?
Dernbach: Die Darstellung hat sich in den letzten Jahren mit Sicherheit verbessert. Aber wenn Frau Maischberger ohne schwarze Menschen über Rassismus diskutieren will, ist das genau das Zeichen von Rassismus, von dem wir sprechen. Ich will ihr nicht unterstellen, dass sie rassistisch ist, aber das ist ein typisches rassistisches Verhalten. Ich glaube nicht, dass beim Thema Gewalt gegen Frauen keine Frauen ins Studio eingeladen worden wären. 

BSZ: Die Adidas-Personalchefin musste diese Woche wegen Rassismus-Vorwürfen zurücktreten. Andere deutsche Unternehmen boykottieren aktuell Facebook wegen des laxen Umgangs des sozialen Netzwerks mit rassistischen Kommentaren. Tut sich was in den Chefetagen?
Dernbach: Ich finde, dieser neue Umgang mit Rassismus steht uns gut zu Gesicht. Wenn wir Themen diskutieren statt sie wegzudiskutieren, wird das zu positiven Ergebnissen und einer friedlicheren Gesellschaft führen. Facebook wird so als Unternehmen gebrandmarkt, das sich nicht um die wesentlichen Themen dieser Welt kümmert. Gleichzeitig kann ein Wirtschaftsboykott nur ein erster Schritt sein. Denn nicht die Wirtschaft ist dafür verantwortlich, dem Grundgesetz, hier der Würde des Menschen, und der Rechtsordnung allgemein Geltung zu verleihen, sondern der Staat – inklusive aller seiner Organe, von der Polizei über die Justiz bis hin zu den Beschäftigten beim Einwohnermeldeamt. 

BSZ: Das Konzept menschlicher Rassen ist wissenschaftlich widerlegt. Sollte das Wort „Rasse“ entsprechend aus Artikel 3 des Grundgesetzes entfernt werden?
Dernbach: Streichen macht keinen Sinn, weil es dann keine Möglichkeit mehr gibt, den Artikel gegen Rassismus zu nutzen. Aber man könnte das Wort einfach ersetzen: Niemand darf aufgrund irgendeiner rassistischen oder rassischen Zuschreibung benachteiligt werden. Das passt auch zum Geist des Artikels. Ich kenne Fälle, wo schwarzen Opfern von Rassismus gesagt wurde, weil sie keine Rasse hätten, könnten sie kein Opfer von Rassismus sein. Das könnte mit der Wortänderung verbessert werden.

BSZ: Der Lebensmittelhersteller Uncle Bens hat nach den jüngsten Demonstrationen sein Logo geändert. Auch bayerische Städte haben einen „Mohren“, also das M-Wort, im Wappen. Wie sollten die Verantwortlichen mit den historischen Darstellungen umgehen?
Dernbach: Das M-Wort ist wie das N-Wort ein rassistischer Begriff aus der Kolonialzeit. Ein M oder N ist aus Kolonialsicht eine Handelsware fast ohne Rechte und kein Mensch. Daher ist eine Akzeptanz des N-und des M-Wortes für schwarze Menschen auf keinen Fall verhandelbar – egal, was ein weißes Gericht dazu sagt. Wir sollten diese Begriffe wie die aus der Zeit des Nationalsozialismus streichen und das gesetzlich entsprechend hinterlegen. In Augsburg gibt es das Hotel „Drei Mohren“, das innen auch noch kolonialistisch aussieht. Vielen schwarzen Menschen wird schlecht, wenn sie sich das anschauen. Beim Umgang mit schwarzen Menschen in Wappen ist die entscheidende Frage, ob es sich bei der Abbildung um die Würdigung oder Herabwürdigung eines schwarzen Menschen handelt. Das Bistum München-Freising hat einen M im Wappen, weil es auf einen Bischof aus einem afrikanischen Land zurückgeht – das wäre grundsätzlich, wenn ich einen schwarzen Bischof ehren möchte, völlig in Ordnung. 

BSZ: Streamingplattformen haben das Südstaaten-Epos „Vom Winde verweht“ wegen Rassismus mit Warnhinweisen versehen. Eine gute Lösung für historische Filme?
Dernbach: Die Frage kann sich jeder selbst beantworten: Hitlers „Mein Kampf“ gibt es nicht unkommentiert im Handel. Propagandafilme, zum Beispiel von Leni Riefenstahl, laufen nicht mehr um 20.15 Uhr im Fernsehen. Nun stellt sich die Frage, warum bei Filmen und Büchern mit schwarzen Menschen mit zweierlei Maß gemessen wird. Sklaven und das N-Wort werden in einem positiven akzeptierten Rahmen gezeigt. Rassismus, Sklaverei und Menschenhandel werden oft positiv dargestellt. Wir werden nicht umhinkommen, das zu ändern, wenn wir wirklich die Würde des Menschen in Artikel 1 des Grundgesetzes und den Ausschluss der Benachteiligung in Artikel 3 im Sinne des Grundgesetzes schützen wollen. In der Realität haben die Artikel für uns eingeschränkte Gültigkeit. (Interview: David Lohmann)

Kommentare (3)

  1. MB am 10.12.2020
    Der Völkermord an der Herero und Nama ist unbestritten und von der Bundesregierung inzwischen auch als solcher anerkannt.
    allerdings ist die Zahl von einer Million Todesopfern viel zu hoch angesetzt.
    Hier ein Auszug aus "Wikipedia":
    Von dem um 1904 auf rund 60.000 bis 80.000 Personen geschätzten Hererovolk lebten 1911 geschätzt nur noch 20.000 Personen.[15] Der Völkermord in Deutsch-Südwestafrika hatte also 40.000 bis 60.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama das Leben gekostet.[12][7][16][17][18][19]
  2. Gehts-noch? am 06.07.2020
    Geschichte ist Geschichte und läßt sich nicht nachträglich durch das Streichen von Wörtern verändern.
    Ansonsten stimme ich dem vorherigen Kommentar zu. Herrn Dernbach scheint es hier in diesem rassistischen Land aber ganz gut zu gehen. Warum hätte er sonst die Zeit und Energie sich mit diesem Unsinn zu beschäftigen.
  3. patriot_whiteblue am 02.07.2020
    Was ich in diesem Zusammenhang nicht ganz verstehe: Warum wollen Millionen Menschen aus Nigeria, Somalia, Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern unbedingt in dieses angeblich so rassistische Deutschland?
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