Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine steht auch die Welt der Grünen Kopf. Ein grüner Vizekanzler Robert Habeck, der erfolgreich für Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet wirbt. Ein SPD-Kanzler Olaf Scholz, der als Koalitionspartner nie dagewesene Rüstungsausgaben ankündigt. Hinzu kommen Diskussionen zu längeren Laufzeiten für klimaschädliche Kohlekraftwerke und sogar Atommeiler. Doch einen allgemeinen Aufschrei löst das alles nicht aus, wenn auch bei manchen deutliches Unbehagen. Was ist los mit der Partei, die ihre Wurzeln in der Umweltschutz- und Friedensbewegung hat?
"Es ist eine große Herausforderung für uns alle, weil wir gerade in einer Zeit sind, die niemand so wollte und niemand so absehen konnte", fasst der neue Parteichef Omid Nouripour die Lage zusammen. Deshalb solle man die Frage, was das für das eigene Programm bedeute, aber ruhig auch mal anderen Parteien stellen. Auch viele SPD-Mitglieder haben ihre Wurzeln in der Friedensbewegung.
Vor allem in der Union reiben sich dieser Tage viele die Hände, weil sie hoffen, dass die Grünen (und die SPD) innerparteilich in unruhiges Fahrwasser steuern. Insbesondere in Hintergrundrunden wird offen über die vermeintliche Diskrepanz zwischen dem realpolitischen Handeln und dem ideologischen Markenkern gespottet. Das Kalkül dahinter ist klar: In wenigen Wochen stehen wieder Wahlen an, erst im Saarland, dann im Mai in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, und die Strategen bei CDU und CSU hoffen dann auf die Quittung unzufriedener Wähler.
"Die Hoffnung wird enttäuscht werden", sagt der frühere Bundestagsfraktionschef Toni Hofreiter. Die Grünen im Jahr 2022 seien eine andere Partei als vor 30 Jahren. Einen Glaubwürdigkeitsverlust fürchte er nicht. "Wir sind inzwischen eine sehr rationale Partei geworden. Das hat viel mit der Klimakrise zu tun." Die Argumente der Wissenschaft seien maßgeblich, es gehe um pragmatische Lösungen. Hinzu komme, dass die Grünen sich ja bis zum Ausbruch des Krieges intensiv um eine diplomatische Lösung bemüht hätten. Zudem sei er überzeugt, dass viele grüne Themen - etwa zur Notwendigkeit einer Energiewende - jetzt neuen Rückenwind bekämen.
"Das Bild vom radikalen Pazifismus ist ein überholtes Klischee"
Das Bild vom radikalen Pazifismus ist ein überholtes Klischee, betont nicht nur Hofreiter. Gerne wird bei dem Thema an die heftigen Auseinandersetzungen beim Bielefelder Parteitag 1999 erinnert und an den sich Spitzengrüne bis heute nur ungern erinnern. Damals stimmte die Partei dem Nato-Einsatz im Kosovo zu, als Teil einer rot-grünen Regierung. Grünen-Außenminister Joschka Fischer wurde daraufhin mit einem Farbbeutel beworfen. Heute ist Außenministerin Annalena Baerbock hinter Scholz die beliebteste Politikerin des Landes.
Trotzdem überlassen die Grünen intern die Stimmungslage nicht dem Zufall. Möglichen Unmut federn sie in internen meist sehr gut besuchten Infoveranstaltungen ab und feiern sich dafür auch gleich als Vorreiter. Bayerns Grünen-Chef Thomas von Sarnowski fasst die Lage an der Basis wie folgt zusammen: "Es sind sicher Fragen da, aber ich habe das Gefühl, dass auch die Antworten da sind." Zudem spüre er in der Partei nicht nur, dass die Fakten in den Gesprächen die Menschen überzeugten, sondern auch dass es einen großen Wunsch in der Partei gebe, dass man der Ukraine und ihren Menschen helfe.
Die traditionelle grüne Friedensliebe ist schon lange nicht gänzlich ungetrübt. Ihr vis-à-vis steht eine harte Linie gegenüber Regierungen, die demokratische Werte nicht teilen und Menschenrechte mit Füßen treten. Harsche Worte für China und Russland fand Baerbock schon als grüne Kanzlerkandidatin, worauf ihre Unterstützter auf Twitter dieser Tage besonders gern hinweisen.
Prostest aus der Partei: "Wer jetzt Waffen liefert, füttert diesen wahnsinnigen Krieg"
"Dass die Russlandpolitik im Koalitionsvertrag "kritischer und damit realistischer formuliert" sei als noch in der großen Koalition liege nicht zuletzt an den Grünen, betont Partei-Urgestein Reinhard Bütikofer. Und das ist nur ein Beispiel von mehreren, die der Ex-Parteichef aufzählt. Bütikofer allerdings ist Realo.
Insbesondere linke Grüne leiden, manche protestieren auch offen. Die Basisgruppierung "Unabhängige Grüne Linke" um den Eifler Grünen Karl-Wilhelm Koch. "Wer jetzt Waffen liefert, füttert diesen wahnsinnigen Krieg", warnte sie in einem Protestbrief an grüne Minister und Parteiführung.
Bauchschmerzen hat auch die traditionell linke Grüne Jugend, etwa mit Blick auf eine mögliche Aufrüstungsspirale. "Es braucht zuerst ein Konzept für die künftige Ausrichtung der Bundeswehr und eine gesellschaftliche und politische Debatte darüber, die nicht nur von Angst getrieben ist", sagt Chefin Sarah-Lee Heinrich. Viele Grüne pochen nun darauf, dass Sicherheit nicht nur mit Bundeswehr zu tun habe, sondern auch mit einem Ende der Abhängigkeit von Russland im Energiebereich, der Vorbeugung von Krisen und Entwicklungszusammenarbeit.
Im März 2022 zeichnet sich somit immer klarer ab, dass der grüne Pragmatismus viel größer ist als viele denken. Zähneknirschend wird dies unter der Hand in der Union so gesehen. Sowohl in der Energiedebatte als auch im Umgang mit dem Krieg samt der 100 Milliarden-Euro-Aufrüstung für die Bundeswehr habe die Ampel und mit ihr auch die die Grünen all jene Lügen gestraft, die im Bundestagswahlkampf noch vom Untergang des Abendlandes voraussagten.
(Marco Hadem und Martina Herzog, dpa)
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