Politik

Jede Mathe-Aufgabe, die sich nicht an zehn Fingern abzählen lässt, ist für Kinder mit Dyskalkulie ein Kraftakt. Foto: dpa/Peul

07.05.2021

Qualen mit Zahlen

Rechenschwäche Dyskalkulie: Betroffene sehen sich in Bayerns Schulsystem massiv benachteiligt

Zahlen vertauschen sich, Gleichungen ergeben keinen Sinn, Mengenverhältnisse bleiben ein Geheimnis. Schon in jungen Jahren wurde bei Maria Stern aus Starnberg eine Rechenstörung festgestellt, die Dyskalkulie. Bei Menschen, die an dieser Störung leiden, ist das arithmetische Denken beeinträchtigt. Jede Mathe-Aufgabe, die sich nicht an zehn Fingern abzählen lässt, ist für sie ein Kraftakt.

Drei bis acht Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben Dyskalkulie. „Rein rechnerisch sitzt in jeder bayerischen Schulklasse ein Kind mit Rechenstörung“, sagt Tanja Scherle, Vorsitzende des bayerischen Landesverbands Le-gasthenie und Dyskalkulie. Legasthenie, also die Lese- und Rechtschreibstörung, und Dyskalkulie sind in etwa gleich stark verbreitet.
Trotz ihrer Störung hat Maria, die ihren richtigen Namen aus Angst vor Stigmatisierung nicht nennen möchte, nicht nur die Mittlere Reife geschafft, im vergangenen Jahr stand die 20-Jährige sogar kurz vor dem Fachabitur. Anschließend, so der Traum der künstlerisch begabten jungen Frau, wollte sie an der Mediadesign Hochschule in München studieren. Die dortige Aufnahmeprüfung hatte sie bereits bestanden.

Doch dann kamen Corona und der erste Lockdown. „Die Schule ist ausgefallen, der Distanzunterricht war mangelhaft, die Lernplattformen nicht funktionsfähig. All das hat Maria besonders zugesetzt“, sagt ihr Großvater Jürgen Engelhardt. „Sie hat sich schwergetan mit der Vorbereitung.“ Schon im ersten Prüfungsfach – ausgerechnet Mathematik – versagten Marias Nerven. Auch weil, so ihrer Erzählung nach, die Prüfer wohl recht unsensibel reagierten, als Maria auf ihre Dyskalkulie zu sprechen kam.

Der Freistaat gewährt keinen Nachteilsausgleich,
andere Länder schon

Marias Hausärztin diagnostizierte später an diesem Tag eine Burn-out-Situation und riet davon ab, mit der Prüfung fortzufahren. „Sie ist nicht mehr angetreten“, sagt Engelhardt. So traumatisch sei dieses Erlebnis für Maria gewesen, dass eine Wiederholung der Prüfung nicht infrage komme. Deshalb kämpft die Familie jetzt dafür, Maria trotz des nicht bestandenen Fachabiturs das Studium an der Design-Hochschule zu ermöglichen. „Menschen mit Dyskalkulie werden in der Schule stark benachteiligt“, sagt Engelhardt. „Deshalb muss es für sie besondere Lösungen geben.“

Tatsächlich gewährt Bayern bei der Legasthenie Schüler*innen einen Nachteilsausgleich. Sie erhalten beispielsweise in den Prüfungen mehr Zeit. Auch ein Notenschutz ist für diese Schüler*innen möglich, was bedeutet, dass eine Teildisziplin des Unterrichtsfachs Deutsch, wie etwa die Rechtschreibung, nicht bewertet wird. 

Anders bei der Dyskalkulie. Hier gibt es in Bayern, anders als etwa in Hessen, Berlin oder Baden-Württemberg, keinen Ausgleich. Das bayerische Kultusministerium verweist stattdessen auf die Förder- und Beratungsstellen an den Schulämtern und auf individuelle Fördermaßnahmen, die in der Schule ergriffen werden können. „Die Betonung liegt auf können“, sagt die Verbandsvorsitzende Scherle. „Verpflichtende Maßnahmen gibt es nicht.“
„Voraussetzung für einen Nachteilsausgleich ist, dass nur die Fähigkeit, das eigentlich vorhandene Leistungsvermögen darzustellen, beeinträchtigt ist“, erklärt ein Sprecher des bayerischen Kultusministeriums auf Anfrage. „Bei der Dyskalkulie ist aber das fachliche Leistungsvermögen an sich vermindert oder im Extremfall nicht vorhanden.“ Nachteilsausgleich oder Notenschutz könnten deshalb nicht angewendet werden. 
Um Maria zu helfen, hat sich ihr Großvater Engelhardt direkt an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) gewandt, er hat das Kultusministerium angeschrieben und gebeten, Marias Fall zu überprüfen. Bisher vergeblich. Aus Protest trat Engelhardt im vergangenen Jahr nach 42 Jahren aus der CSU aus.

„Schüler mit Dyskalkulie sind nicht zu dumm oder zu faul für gute Noten“, sagt Scherle. „Gerade in Sprachen sind sie oftmals sehr begabt.“ Oder in künstlerischen Fächern, wie Maria zum Beispiel. Weil Mathematik in Bayern Pflichtfach ist, scheitern aber viele Schüler mit Rechenstörung bereits am Abschluss der Mittelschule. Dabei plädiert die Wissenschaft längst für Nachteilsausgleich und Notenschutz. Diese stellen „wichtige Entlastungs- und Unterstützungsmaßnahmen für eine erfolgreiche schulische Laufbahn und spätere Bildungs- und Berufskarriere der betroffenen Person dar“, heißt es in der 2018 veröffentlichten S3-Leitlinie Rechenstörung, die an der Münchner Universität koordiniert wurde. 

„Das jetzige Schulsystem verhindert, dass Schüler mit Dyskalkulie ihr Potenzial entfalten können“, sagt Scherle, die selbst Mathematik an einem Gymnasium unterrichtet und ebenfalls für einen Nachteilsausgleich kämpft. „Mehr Zeit in den Prüfungen, Hilfsmittel wie ein vereinfachter Taschenrechner, klar strukturierte Textaufgaben – all das würde diesen Schülern schon sehr viel helfen“, sagt sie.

Maria besucht mittlerweile eine private Akademie für Mediendesign und hofft weiter auf eine Lösung. Ihren Traum von einem künstlerischen Hochschulstudium hat sie noch nicht aufgegeben. (Beatrice Ossberger)

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