Politik

Eine der Forderungen: Maskenpflicht in Innenräumen. (Foto: dpa)

15.06.2022

Aktuelle Corona-Politik: Zwischen Panik und Vorsicht

Ist es sinnvoll, Corona-Maßnahmen für eine mögliche Corona-Welle im Herbst bereits heute zu beschließen?

Es war eine kaum an Dramatik zu überbietende Warnung, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Mitte April an die Deutschen richtete. Es sei „durchaus möglich, dass wir eine hochansteckende Omikron-Variante bekommen, die so tödlich wie Delta ist“, sagte der SPD-Politiker und fügte hinzu: „Das wäre eine absolute Killervariante.“ Die Aussage des Mediziners dürfte vielen Angst bereitet haben.

Doch diverse Fachleute kritisieren Lauterbachs Äußerungen scharf. Es sei, so der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit, „extrem unwahrscheinlich“, dass eine Variante, die noch gefährlicher und ansteckender sei, Deutschland im Herbst heimsuchen könnte. Der Hamburger Professor verweist im BSZ-Gespräch auch auf eine Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Und er geht aufgrund der Impfungen und vieler überstandener Infektionen von einer breiten Grundimmunisierung in der Bevölkerung aus.

Drei theoretisch mögliche Szenarien

Auch etliche andere Fachleute glauben nicht, dass in diesem Jahr noch einmal eine Variante Deutschland heimsuchen könnte, die so tödlich ist wie Delta. Omikron ist trotz aktuell wieder steigender Fallzahlen weit davon entfernt, die deutschen Intensivstationen an ihre Kapazitätsgrenzen zu bringen.

Ob dies im Herbst und Winter so bleibt, kann niemand mit Sicherheit seriös voraussagen. Der sogenannte Expertenrat der Bundesregierung hat sich an einer Prognose versucht und für den Herbst drei theoretisch mögliche Szenarien entworfen. Der günstigste Fall geht von einer im Vergleich zu Omikron harmloseren Variante aus. Hier wären keine stärker eingreifenden Schutzmechanismen notwendig. Das zweite Szenario geht von gleichbleibender Corona-Krankheitslast sowie gehäuften Infektionen und Arbeitsausfällen aus. Trotz angenommener moderater Belastung könnten dann erneut Maßnahmen wie Masken und Abstand in Innenräumen erforderlich sein. Das ungünstigste Szenario ist eines, in dem sich tatsächlich eine neue, noch gefährlichere Variante ausbreitet. Schutzmaßnahmen wie eine Maskenpflicht wären in diesem äußerst unwahrscheinlichen Szenario für lange Zeit nötig.

Die Einschätzung des Gremiums ist zwar weit weniger alarmistisch als die Lauterbachs. Nichtsdestotrotz empfiehlt der Expertenrat eine generelle und vorausschauende Vorbereitung auf alle drei Szenarien. Zentral aus Sicht des Gremiums ist etwa eine rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen sowie eine deutliche Verbesserung des frühzeitigen Zugangs Erkrankter zu antiviraler Medikation.

Diverse Politiker*innen von Grünen, SPD, Union und Linken fordern die Bundesregierung aufgrund der Empfehlungen zum sofortigen Handeln auf. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour fordert eine rasche Änderung des Infektionsschutzgesetzes, um für die kältere Jahreszeit gewappnet zu sein. „Je früher wir auf den Herbst vorbereitet sind, desto besser ist es“, so der Grüne. Länder und Kommunen bräuchten „einen Vorlauf“. Es gehe darum, die Fehler der vergangenen beiden Jahre nicht zu wiederholen. Bayerns Linken-Chef Ates Gürpinar sekundiert: „Wir müssen jetzt mit den Vorbereitungen beginnen.“ Es müssten jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden, dass es ab Herbst eine bundesweite Maskenpflicht geben kann, sagt der pflegepolitische Sprecher der Linken-Bundestagsfraktion der Staatszeitung.

Was soll die Eile? Nicht nur die FDP ist irritiert

Nicht alle mögen diese Eile nachvollziehen. FDP-Vize Wolfgang Kubicki erinnert daran, dass es einen gesetzlichen Auftrag gebe, Corona-Maßnahmen zunächst fachgerecht zu beurteilen. Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will noch warten: „Zwischen dem 30. Juni und dem Ende der Sommerpause werden wir gemeinsam mit den Ländern beraten, was zu tun ist“, so der Liberale. Denn am 30. Juni wird der sogenannte Corona-Sachverständigenausschuss aufgrund einer wissenschaftlich fundierten Auswertung seine Empfehlungen abgeben und resümieren, welche Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung bislang tatsächlich erfolgreich waren. Das von der Bundesregierung installierte Gremium besteht aus externen Fachleuten wie dem Virologen Hendrik Streeck.

„Es macht Sinn, die Evaluierung des Sachverständigenrats abzuwarten und erst dann über die richtigen Maßnahmen zu entscheiden“, sagt Virologe Schmidt-Chanasit der BSZ. Sollte sich die Situation zuvor verschärfen, sei Deutschland mit der bestehenden Möglichkeit, Corona-Maßnahmen in Hotspot-Regionen zu verhängen, ausreichend aufgestellt. Auch Dominik Spitzer, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, will den Bericht des Sachverständigenrats abwarten: „Es fehlen uns zum Teil noch Zahlen. Um mögliche Maßnahmen zu beschließen, muss man ja wissen, welche bislang überhaupt gewirkt haben“, betont der Allgemeinarzt auf Anfrage.

Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hat die Bundesregierung dagegen zu mehr Tempo bei den Pandemievorbereitungen für den Herbst aufgefordert. „Ein weiteres Zögern gefährdet den rechtzeitigen Schutz der Bürgerinnen und Bürger“, sagt er. Holetschek kritisiert die Haltung der FDP. „Es kann nicht sein, dass sich in der deutschen Corona-Politik der Populismus-Kurs eines kleinen Ampel-Partners durchsetzt.“

Tatsächlich könnte der Bericht des Sachverständigenrats den Liberalen bei ihrer Argumentation in die Hände spielen. Denn einem angeblichen Entwurf des Berichts zufolge, über den die SZ berichtete, gibt es kaum Belege für den Nutzen der verschiedenen Maßnahmen – mit Ausnahme des Maskentragens in Innenräumen. Lockdowns oder G-Regeln dürften daher, falls die Killervariante ausbleibt, kaum zu begründen sein.
(Tobias Lill)

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