Die Energiekrise trifft nicht nur arme Menschen, sondern auch die Mittelschicht, sagt Verdi-Gewerkschaftssekretär Ulli Schneeweiß. Dennoch würden Kritiker von der Politik kriminalisiert und oft in die rechte Ecke gestellt. Dabei seien die aktuellen Hilfen bisher völlig unzureichend.
BSZ: Herr Schneeweiß, im August überraschte der Bundesverfassungsschutz mit der Aussage, Ängste vor Gasknappheit und Preissteigerungen seien aus Russland gestreute Falschmeldungen. Stimmen Sie zu?
Ulli Schneeweiß: Nein, die Krise trifft die Ärmsten der Armen bis weit in die Mittelschicht hinein. Natürlich sind die aktuellen wirtschaftlichen Probleme auch eine Folge des Krieges in der Ukraine. Aber Energie ist nicht nur so teuer geworden, weil Russland den Gashahn zugedreht hat, sondern auch wegen des Dürresommers und der Nachwirkungen von Corona. Jetzt sehen wir unter dem Brennglas, was in den letzten 30 Jahren in der Sozialpolitik versäumt wurde.
BSZ: Sie haben letzten Samstag in Nürnberg eine Demo mitorganisiert. Bilden sich Leute die Krise also nicht nur ein?
Schneeweiß: Ich habe mit vielen gesprochen, es sind pure existenzielle Sorgen. Menschen, die zur Miete wohnen, fragen sich, wann ihnen die Heizung abgestellt wird, Hausbesitzer, wie lange sie sich noch Heizöl leisten können, Hartz-IV-Empfänger, ob sie sich am Monatsende noch etwas zu essen kaufen können. Sie bekommen zwar ab Januar 50 Euro mehr Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld, das wird aber von der Inflation gleich wieder aufgefressen. Nächstes Jahr soll sie laut Experten auf 12 Prozent steigen. Die Hartz-IV-Reform ist nichts anderes als ein Inflationsausgleich.
BSZ: Sie planen am 1. Oktober die nächste Demo. In den Medien ist bereits vom heißen Herbst oder Wutwinter die Rede. Gleichzeitig werden Kundgebungen von der Politik oft kritisiert, weil sie rechtsextremistisch unterwandert seien. Müssen Sie jetzt immer prüfen, ob sich ein Neonazi unter die Demonstrierenden mischt?
Schneeweiß: Das ist eine zentrale Frage, die wir lange intern diskutiert haben. Leider gibt es seit Corona auch Demonstrationen, die nach rechts außen weit offen sind. Distanziert wurde sich dort immer erst, wenn das skandalisiert wurde. Wir wissen aber aus Chatverläufen, dass wir für die extreme Rechte wegen unseres Kernthemas Solidarität nicht attraktiv sind. Das klingt für die zu sehr nach Sozialismus. Wenn Kritiker die Kundgebung stören, würde ich zuerst das Gespräch mit ihnen suchen. Schließlich darf jeder kommen und nicht alle Störer sind Nazis oder Verschwörungserzähler. Wenn die Situation trotzdem eskaliert, hilft nur, die Polizei zu rufen.
BSZ: Trotz der Nöte der Menschen kanzelte Christian Lindner (FDP) den Wunsch nach günstigem Nahverkehr als „Gratismentalität“ ab, Winfried Kretschmann (Grüne) riet zum Waschlappen statt zur Dusche und Markus Söder (CSU) forderte, dass sich Arbeitslose mehr um einen Job bemühen müssen. Mangelt es an Einfühlungsvermögen?
Schneeweiß: Krisen werden von politisch Verantwortlichen regelmäßig mit Durchhalteparolen begleitet: „Wenn ihr euch nur genug anstrengt, schaffen wir das.“ Alle Leute, die Bedenken anmelden, werden diskreditiert, kriminalisiert, versucht, ins Abseits zu stellen und als charakterlich schlecht dargestellt. Getreu dem Motto: Jeder, der sich für die Mitte, für bürgerlich und brav hält, geht nicht auf die Straße. Das ist ein gewollter Nebeneffekt dieser Aussagen. Kann man so machen. Ich glaube aber nicht, dass es funktioniert. Übrigens ist der ÖPNV im reichen Luxemburg seit Jahren kostenlos.
BSZ: Haben Sie Angst, aufgrund der Kritik der Politik in die Ecke von Extremismus, Verschwörungstheorie oder Querdenkertum gerückt zu werden?
Schneeweiß: Ja, natürlich, die Gefahr besteht. Wir haben daher versucht klarzustellen, dass wir keine Verrückten sind. Deshalb haben wir konkrete Vorschläge gemacht und nicht generalisiert: „Es ist alles Mist, vertraut nicht der Politik.“ Aber für dumm verkaufen lassen wir uns auch nicht. Das neue Entlastungspaket der Bundesregierung bleibt an vielen Stellen sehr vage. Zusätzlich waren viele der Kosten der insgesamt 65 Milliarden Euro schon lange vorher beabsichtigt, zum Beispiel das Bürgergeld oder die Erhöhung des Kindergelds. Das jetzt als neue Entlastung zu feiern, ist nicht besonders kreativ. Die durchaus positiven Ansätze im Entlastungspaket wie beim Wohngeld wollen wir dagegen in konkrete Gesetze gegossen sehen. Eine bloße Ankündigung hilft niemandem.
"Alle Leute, die Bedenken anmelden, werden von der Politik diskreditiert, kriminalisiert, versucht, ins Abseits zu stellen und als charakterlich schlecht dargestellt"
BSZ: Aber im dritten Entlastungspaket sollen doch jetzt immerhin konkret auch Studierende mit 200 Euro und Rentner*innen mit 300 Euro entlastet werden.
Schneeweiß: Ich bezweifele, ob es Studierende schaffen, für nur 200 Euro mehr im Jahr zu heizen. Dass diese Personengruppen jetzt bedacht wurden, war nur die Korrektur eines Fehlers, weil das bisher versäumt wurde. Eine Einmalzahlung ist aber keine strukturelle Hilfe. Die Energiekrise wird uns noch mehrere Jahre begleiten. Wir brauchen daher eine dauerhafte Lösung.
BSZ: Zusätzlich will die Bundesregierung Zufallsgewinne von Energieunternehmen abschöpfen und das Geld für eine Strompreisbremse nutzen. Überzeugt Sie das?
Schneeweiß: Zufallsgewinne ist schon jetzt das Unwort des Jahres. Die Gewinne der Energieunternehmen sind kein Zufall, sondern so gewollt. Es geht um die Maximierung von Profiten. Wenn das abgeschafft werden soll: wunderbar. Aber zuerst will die Bundesregierung auf europäischer Ebene eine Einigung finden. Keiner weiß, wie lange das dauert. Erst danach ist ein nationaler Alleingang möglich. Wenn damit eine Strompreisbremse finanziert wird, wären wir hochglücklich. Aber wie gesagt: Bisher sind es nur Ankündigungen.
BSZ: Was halten Sie von der Idee der Linken, Energiekonzerne zu verstaatlichen?
Schneeweiß: Ich persönlich sehr viel. Energiekonzerne sind ein Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Natürlich sind sie schon jetzt staatlich reguliert. Aber wenn wir sie weiter wie jetzt dem reinen Markt überlassen, können sich bald nur noch diejenigen Energie leisten, die über die entsprechenden Finanzmittel verfügen. Aus meiner Sicht gehören alle öffentlichen Daseinsversorger in staatliche Hand.
BSZ: Verdi fordert Lohnsteigerungen für die Beschäftigten. Treibt das die Inflation nicht noch weiter an?
Schneeweiß: Schon bei den ersten Anzeichen einer Inflationssteigerung wurden wir als Gewerkschaft vom Bundesfinanzminister aufgefordert, die sogenannte Lohn-Preis-Spirale nicht weiter anzuheizen. Niedrige Gehaltssteigerungen, niedrige Inflation – das hört sich für manchen erst mal logisch an. Obwohl die Löhne letztes Jahr aber branchenübergreifend nur um 1,7 Prozent gestiegen sind, haben wir jetzt aber eine Inflationsrate von 8 Prozent. Es gibt also keine unikausale Erklärung. Eine weitere Lohnzurückhaltung würde nicht zu einer niedrigeren Inflation, sondern nur dazu führen, dass noch mehr Menschen von ihrem Lohn nicht mehr leben können.
BSZ: Halten Sie persönlich die deutschen Wirtschaftssanktionen trotz der sozialen Konsequenzen eigentlich für die richtige Antwort?
Schneeweiß: Die hohen Energiepreise sind wie gesagt nur eine von vielen Ursachen für die aktuelle Krise. Sachlich betrachtet wurde Russland durch die Sanktionen wirtschaftlich aber nicht geschwächt. Sicherlich würde es den Menschen durch günstigere Energiepreise besser gehen. Aber was der richtige Weg ist, mit einem Aggressor umzugehen, fällt nicht in unseren Themenbereich. Das müssen andere entscheiden. (Interview: David Lohmann)
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