Politik

Der Krieg hat in den ersten drei Wochen bereits rund 5000 Menschenleben gekostet, 16 000 Personen wurden verletzt. (Foto: dpa/Abed Rahim Khatib)

20.10.2023

"Der Terror der Hamas darf nicht zu Kollektivstrafen führen"

In Israel droht die größte militärische Auseinandersetzung, die das kriegserfahrene Land bisher erlebt hat. „Dabei muss im Gazastreifen unbedingt das Völkerrecht geachtet werden“, sagt Politikwissenschaftler Stephan Stetter von der Münchner Bundeswehruniversität im BSZ-Interview. Nicht nur aus rechtlichen und ethischen, sondern auch aus strategischen Gründen

BSZ: Herr Stetter, warum hat die Hamas Israel ausgerechnet jetzt angegriffen? Israel stand wegen der Justizreform kurz vor einem Bürgerkrieg. Netanjahu dürfte es doch zupasskommen, dass jetzt keiner mehr darüber spricht.
Stephan Stetter: Man nennt das „Rally ‘round the flag“-Effekt. In Kriegszeiten – vor allem bei einer existenziellen Bedrohung – treten politische Konflikte in den Hintergrund, existieren aber weiter. Terrorgruppen wie die Hamas wissen das natürlich. Durch die Anschläge wollen sie die Friedensbemühungen über Generationen hinaus zerstören und die Annäherung Israels mit den arabischen Staaten verhindern. Möglich macht es auch die politische Großwetterlage mit dem Krieg in der Ukraine.

BSZ: Manche vermuten, Russlands Präsident Putin habe seine Finger im Spiel, um vom Krieg in der Ukraine abzulenken. Ohne Aufmerksamkeit kein Geld und keine Waffen.
Stetter: Es geht nicht nur um Ablenkung, sondern um eine größere russische Strategie. Zuerst hat Russland eine Resolution im Weltsicherheitsrat blockiert, jetzt selber einen Entwurf eingebracht, in dem die Hamas nicht verurteilt wird. Russland ist mit Iran verbunden, der die Hamas finanziell und bei der Ausbildung von Kämpfern unterstützt. Auch Russland unterhält Kontakte zur Hamas. Die Länder eint nicht die Ideologie, sondern ihr autoritäres System und das strategische Interesse. Daher kooperieren sie auch bei Waffenlieferungen.

BSZ: Israel hat die palästinensische Zivilbevölkerung wegen der bevorstehenden Bodenoffensive aufgefordert, in den Süden des Gazastreifens zu flüchten. Für viele Alte und Kranke ist das unmöglich. Viele Geflüchtete befürchten, nie wieder zurückkehren zu können. Teilen Sie diese Sorge? 
Stetter: Die humanitäre Lage ist katastrophal – und das schon seit 15 Jahren. Die Verantwortung dafür trägt aber vor allem die Hamas. Sie hat militärische Einrichtungen in zivile Gebiete verlegt und missbraucht Menschen als lebende Schutzschilde. Das verstößt gegen das Völkerrecht. Israel wird fundamental bedroht und hat ein Recht darauf, sich zu wehren. Gleichzeitig muss es auch das Völkerrecht achten. Nicht nur aus rechtlichen und ethischen, sondern auch aus strategischen Gründen. Ansonsten wird es nicht gelingen, langfristig breite und globale Bündnisse auch als Gegengewicht zu Russland und China zu schmieden. Dazu gehört auch die Frage, wie es im Gazastreifen weitergeht, wenn die Hamas besiegt oder zumindest geschwächt ist. Wie wichtig diese Frage ist, zeigt sich daran, dass US-Präsident Biden am Kriegskabinett teilnehmen wird.

BSZ: Krieg und Terror sind niemals gerechtfertigt. Aber Israel hat in der Vergangenheit kein Interesse mehr an einer Zweistaatenlösung gezeigt, Siedler und Extremisten hatten durch die rechts-religiöse Politik immer mehr freie Hand. War das nicht mindestens provokant? 
Stetter: Natürlich sind die zukünftigen Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern ein überragend wichtiges Thema. Der Friedensprozess existiert schon lange nicht mehr. Israel trägt dafür auch Verantwortung. Aber auch die internationale Gemeinschaft. Westliche und arabische Staaten haben sich viel zu wenig eingebracht. Das alles ist aber keine Rechtfertigung für die terroristische Strategie der Hamas. 

BSZ: Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) sagte bei einer Gedenkveranstaltung, manche Menschen würden noch immer fälschlicherweise von einer „Gewaltspirale“ sprechen. Aber ist es das denn nicht, wenn jeder Tote mit mehr Toten auf der anderen Seite beantwortet wird? 
Stetter: Das Wort Gewaltspirale halte ich für zu ungenau. Natürlich ist jeder Krieg dramatisch. Aber es darf nicht um Vergeltung gehen, sondern Israel wurde angegriffen. Passender wäre für den gesamten Israel-Palästina-Konflikt das Wort „Negativspirale“. Wer daran Schuld hat, ist genauso schwer zu beantworten wie das Henne-Ei-Problem. In diesem Fall hat Israel aber auf eine konkrete Bedrohung reagiert. 

BSZ: War es ein historischer Fehler der UN-Generalversammlung, Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen?
Stetter: Ich halte eine gute Zweistaatenlösung, die Rechte auf Selbstbestimmung und Sicherheit garantiert, nach wie vor für den sinnvollen Weg zu dauerhaftem Frieden.

BSZ: Israel hatte den Gazastreifen von Wasser, Lebensmitteln, Strom und Treibstoff abgeschnitten – das betraf auch Krankenhäuser. Die Europäische Union plant jetzt eine Luftbrücke. Wäre es nicht besser, Israel würde wieder humanitäre Hilfe zulassen? 
Stetter: Die Zivilbevölkerung darf nach Kriegsrecht nicht ausgehungert werden. Diese Frage muss behandelt werden. Darauf haben auch die USA mehrfach hingewiesen und einen Sondergesandten für humanitäre Fragen ernannt. Aber noch mal: Es ist eine Kriegssituation, für die die Hamas die Verantwortung trägt. Das darf aber nicht zu Kollektivstrafen führen. 

BSZ: Israel wurde vom Angriff der Hamas überrascht, obwohl es einen der besten Sicherheitsdienste der Welt hat. Manche nennen den 7. Oktober schon den 11. September Israels. Was war die Ursache?
Stetter: Die Hamas hat sich beim Einsatz der Drohnen und der Planung der Entführungen sehr intensiv und strategisch gut vorbereitet. Das ist sicher auch der Grund, warum die israelische Bodenoffensive noch nicht begonnen hat. Die Hamas dürfte sich auch entsprechend auf den Abwehrkampf on the ground vorbereitet haben. Zusätzlich wurde wegen der verschärften Sicherheitssituation durch den ausbleibenden Friedensprozess im Westjordanland Sicherheitspersonal vom Gazastreifen abgezogen. Diese Fehleinschätzungen werden aufgearbeitet werden müssen. 

BSZ: Nach den Terrorangriffen der Hamas sah man in Berlin jubelnde Menschen auf den Straßen. Jüdische Menschen leben seitdem in Angst, viele Schulen, Museen und Restaurants sind geschlossen. Wurde der islamische Antisemitismus in Deutschland zu lange vernachlässigt und helfen die jüngsten Verbote? 
Stetter: Die Situation ist dramatisch und zeigt, dass der Konflikt längst auch bei uns angekommen ist, inklusive eines erschreckenden Antisemitismus. Das Phänomen ist leider nicht neu, sondern tief verankert in gesellschaftlichen Milieus auch über islamistische Gruppen hinaus. Nicht nur Teile von Einwanderern, sondern auch ein zweistelliger Prozentsatz der „Biodeutschen“ setzen Juden mit Israel gleich. Wir stehen vor einer enormen Bildungsaufgabe. Über das Hamas-Betätigungsverbot war ich ehrlich gesagt überrascht. Ich dachte, das gäbe es schon längst.

BSZ: Auch der Bundesliga-Profi Noussair Mazraoui vom FC Bayern München steht in der Kritik, weil er in den sozialen Netzwerken ein Video verbreitet, in dem den Palästinensern im Konflikt mit Israel ein Sieg gewünscht wird.
Stetter: Die Gewalt der Hamas muss in aller Deutlichkeit genannt und verurteilt werden. Leider gibt sich auch der Deutsche Fußball-Bund ausweichend. In Israel sind übrigens 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Araber beziehungsweise Palästinenser. Von ihnen verurteilen 77 Prozent die Anschläge.

BSZ: „Wir werden die Hamas zerstören und gewinnen, aber es wird Zeit brauchen“, sagte Netanjahu. Wie realistisch ist das und wie lange wird der Krieg dauern? 
Stetter: Ein Sieg über die Hamas ist militärisch möglich, weil Israel militärisch überlegen ist. Wenn der Konflikt auf den Gazastreifen begrenzt bleibt, rechne ich mit einem Zeitraum von vielen Wochen bis wenigen Monaten. Allerdings drohen Iran und Russland bei einer Bodenoffensive mit Konsequenzen. In diesem Fall muss die Situation neu bewertet werden. Um den Konflikt regional einzudämmen, braucht es jetzt eine gute Mischung aus sehr viel Diplomatie und Abschreckung.

BSZ: Ist aufgrund der Geschichte und der Lage Jerusalems überhaupt ein Frieden zwischen Israelis und Palästinensern möglich? 
Stetter: Ja, Frieden ist möglich und nötig. Allein schon, weil in diesem Gebiet so viele Israelis und Palästinenser zusammenleben. Es gab dazu schon viele Vorschläge. Für eine friedliche Zukunft braucht es aber eine vernünftige Nachkriegsordnung und eine Form des Ausgleichs. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, der durch den Angriff und die traumatischen Folgewirkungen jetzt noch mal länger wird. (Interview: David Lohmann)
 

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