Politik

Im Europaparlament müsste einiges reformiert werden. (Foto: dpa/Philipp von Ditfurth)

14.06.2024

Demokratie? Ausbaufähig!

Dem Europaparlament fehlt es an Macht – kommt eine Reform?

Das neue Europaparlament ist gewählt. Doch bei vielen wegweisenden Entscheidungen sind die 720 direkt demokratisch legitimierten Abgeordneten außen vor. Eine Reform soll das und viele andere Mängel beheben – was dringend nötig wäre.

Im Gesetzgebungsverfahren darf das Europaparlament nur bei der Aufstellung des Haushalts gleichberechtigt mitreden. Es legt mit fest, welche Leitlinien beim Haushalt gelten, und verabschiedet den Haushaltsplan, dessen Ausführung es auch überwacht. Ansonsten hat das Gremium keinerlei Initiativrecht bei Gesetzen. Das liegt einzig bei der Europäischen Kommission.

Die Kommission besteht aus 27 Kommissar*innen, die jedes Mitgliedsland repräsentieren und jeweils für einen Politikbereich zuständig sind. An der Spitze steht der Kommissionspräsident oder die -präsidentin. Wie die Mitglieder der Kommission wird auch dieser Posten von den EU-Staaten bestimmt und dann dem Parlament zur Abstimmung präsentiert. Immerhin: Nach der Europawahl 2019 lehnten die Abgeordneten mehrere Kommissionskandidat*innen ab, weil sie Zweifel an deren Integrität hatten. Die Staaten mussten neues Personal auswählen.

Ein mächtiges Instrument

Für Markus Ferber, seit 1994 Europaabgeordneter der CSU, sind die Anhörungen der Kommissionskandidat*innen in den Fachausschüssen des Parlaments vor ihrem Amtsantritt ein mächtiges Instrument in den Händen der Abgeordneten. Im Bundestag gebe es so etwas nicht. Dazu komme die Wahl der Kommissionsspitze durch das Parlament. „Ein demokratisches Defizit in der EU erkenne ich nicht“, sagt Ferber.

Ist die Kommission aber vom Parlament bestätigt, sind die Einflussmöglichkeiten des Parlaments weit geringer. Ein Misstrauensvotum kann nur gegen die Kommission insgesamt gestellt werden. Und dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und die Mehrheit der Parlamentsmitglieder. Bis heute gab es zwar mehrere Versuche, aber kein Misstrauensvotum war erfolgreich.

Es gibt eine Notfallklausel

Bei normalen Gesetzen darf das Parlament ebenso wie die Mitgliedstaaten über Gesetzesvorschläge der Kommission entscheiden. Geht es aber um Budget- oder Steuerrecht, entscheiden die Mitgliedstaaten praktisch allein. Über eine Notfallklausel, die zuletzt während der Pandemie häufig angewandt wurde, können die Staaten auch am Parlament vorbei Maßnahmen beschließen. Dass die Mitgliedstaaten bei Weitem die größte Macht besitzen, zeigt sich auch im Einstimmigkeitsprinzip, das nach wie vor in sensiblen Bereichen wie der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder bei EU-Finanzen gilt. Ein Land kann dabei alles blockieren.

Im November 2023 sprach sich das Parlament für eine weitgehende Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip aus. Dazu wollen die Abgeordneten ein vollständiges Gesetzesinitiativrecht. Die Kommissionsspitze soll von ihnen vorgeschlagen werden, den Staaten bliebe nur die Bestätigung. Die Kommission soll auf 15 Mitglieder beschränkt werden.

Die Parlamentarier*innen fordern in ihrem Vorstoß auch insgesamt mehr Befugnisse für die EU: Sie wollen in den Bereichen öffentliche Gesundheit, Katastrophenschutz, Industrie und Bildung mitreden – bisher war das ausschließlich Sache der Mitgliedstaaten. Bei Energie, auswärtigen Angelegenheiten, äußerer Sicherheit und Verteidigung, Außengrenzpolitik und länderübergreifender Infrastruktur wollen sie mehr Zuständigkeiten. Weitere Forderungen sind mehr Mitsprache der Bevölkerung und mehr Transparenz bei Standpunkten der einzelnen Mitgliedstaaten.

Unklar, ob die Reform umgesetzt wird

Allerdings ist unklar, ob es zu einer Umsetzung kommt. Der mit einer knappen Mehrheit von 291 zu 274 Stimmen – bei 44 Enthaltungen – beschlossene Vorstoß ist für die Staats- und Regierungschefs nicht verbindlich. Sie können frei entscheiden, ob und wann sie die Vorschläge auf die Tagesordnung setzen.

Dass die Staaten tatsächlich so viele Kompetenzen an Brüssel beziehungsweise Straßburg abtreten wie vom Parlament gefordert, scheint unrealistisch. Bevor aber überhaupt an eine Erweiterung gedacht wird, sollten sie auf jeden Fall das Einstimmigkeitsprinzip in die Tonne treten. Damit die EU bei künftigen Herausforderungen handlungsfähig ist.

Einstimmigkeitsprinzip abschaffen

Auch für den Grünen-Abgeordneten Daniel Freund wäre – ebenso wie für CSU-Mann Ferber – die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips die drängendste Maßnahme. „Nationale Vetos sind ein Sicherheitsrisiko für Europa. Jemand wie Wladimir Putin muss aktuell nur eine Regierung ,drehen‘, um Europa zu blockieren. Das müssen wir beenden“, sagt Freund. Er fordert auch ein Initiativrecht für das Parlament, selbst wenn er wie Ferber darauf verweist, dass Europaabgeordnete bereits jetzt schon einigen Gestaltungsspielraum haben. „Kaum ein Gesetzesvorschlag verlässt das Parlament so, wie er von der Kommission vorgeschlagen wurde“, sagt Ferber.

Freund hat einen interessanten Vorschlag, wie man die europäische Demokratie verbessern könnte: mit transnationalen Wahllisten. So würden die Parteien mit europaweit geltenden Programmen antreten. Das ginge sogar ohne Änderung der Verträge.

Doch wie ernst es den Mitgliedstaaten mit der Stärkung des Parlaments und der demokratischen Legitimität der EU ist, zeigte sich 2019: Vor der Wahl hieß es, nur wer als europäischer Spitzenkandidat antrete, könne später auch vom Parlament als Kommissionspräsident gewählt werden. Doch dann ignorierten die EU-Staaten dieses Prinzip und nominierten stattdessen die vorher nicht aufgestellte Ursula von der Leyen (CDU), die dann auch von einer Parlamentsmehrheit gewählt wurde.
(Thorsten Stark)

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