Politik

Armbinde mit einem gelben Stern mit der Inschrift "Ungeimpft". (Foto: dpa/Christophe Gateau)

03.01.2022

Der neue Antisemitismus und die alte Brunnenvergifter-Legende

In Deutschland flammt der Antisemitismus wieder auf. Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust sind auf den Straßen wieder antijüdische Hetzparolen zu hören - mit einer Gesetzesänderung soll zukünftig dagegen vorgegangen werden

Holocaust-Verharmlosung, antisemitische Verschwörungsmythen und körperliche Gewalt: Der Antisemitismus war 2021 in den Schlagzeilen wie schon lange nicht mehr. Auch in Bayern mehren sich die gemeldeten Fälle - vor allem im Zusammenhang mit Corona. Woher kommt der Hass und wie soll dem Problem im kommenden Jahr begegnet werden?

Die Historikerin Carmen Reichert, die im kommenden Mai die Leitung des Jüdischen Museums in Augsburg übernehmen soll, sieht Parallelen zwischen den neuen Verschwörungsmythen über das Coronavirus und dem alten Mythos der Brunnenvergiftung. "Im Mittelalter behauptete man, Juden hätten den Brunnen vergiftet, wenn irgendwo eine Seuche ausbrach", sagt Reichert. Heute geben einige Menschen den Juden die Schuld an der Pandemie. Auf diese neue Form des Antisemitismus wolle sie in ihrer künftigen Position reagieren.

Bis Anfang September nächsten Jahres ist in dem Museum bei der Augsburger Synagoge die Ausstellung "Judenbilder" zu sehen. Sie beschäftigt sich mit Vorstellungen des Jüdischen beziehungsweise von jüdischen Menschen. Zu sehen sind ostjüdische Klischeebilder, jüdisches Spielzeug, Andenken aus Israel oder koschere Produkte des täglichen Bedarfs. Sie spiegeln sowohl Eigen- als auch Fremdwahrnehmung, die sich häufig zwischen Kitsch, Klischee und Stereotypen bewegen. Gleichzeitig soll damit antisemitischen Vorurteilen begegnet werden.

Nach Angaben der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Bayern haben sich im Zuge der Corona-Pandemie verstärkt antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet. Diese sprächen sich in den sozialen Medien rasant herum und erreichten über Anti-Corona-Demos auch immer mehr Menschen, die vor der Pandemie wenig verschwörungsideologisch geprägt gewesen seien. So sind seit dem 1. Dezember laut RIAS 15 antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Pandemie bekannt worden. Elf davon habe es bei "Corona-Demos", zwei weitere am Rande davon gegeben. Allerdings sei von einem großen Dunkelfeld auszugehen, hieß es.

Verhöhnung der Opfer des Holocaust

Angaben zufolge überwiegt dabei der "Post-Schoah-Antisemitismus", der sich in Verhöhnung der Opfer des Holocaust äußert, etwa indem Corona-Maßnahmen mit der Verfolgung und Ermordung von Juden gleichgesetzt werde. So sei bei einer Demo vom "Holocaust 2.0" die Rede gewesen. Dabei forderte ein Teilnehmer laut RIAS: "Keine Konzentrationslager für Ungeimpfte". Während es in München Schilder mit "Spritzenholocaust" und der Aufschrift "Impfen macht frei" gegeben haben soll - eine Anspielung auf die menschenverachtenden Schriftzüge der Nazis an KZ-Toren.

"Im Zuge der Corona-Proteste stellten wir sehr häufig Verharmlosungen der Schoah fest - etwa, wenn Impfgegner mit einem gelben Stern mit der Inschrift "Ungeimpft" auf die Straße gingen", sagt RIAS-Leiterin Annette Seidel-Arpaci. Derartige NS-Vergleiche sind keine Seltenheit. Immer wieder bezeichnen sich Personen aus der Querdenker- und Impfgegner-Szene als "Juden von heute" und verharmlosen dadurch die Judenverfolgung und das totalitäre Regime insgesamt.

Der von der Staatsregierung geförderte Verein RIAS wurde 2019 gegründet, nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt von Antisemitismus betroffene Menschen im Freistaat.
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, zeigt sich über die Entwicklungen besorgt: "Bei vielen jüdischen Menschen hat sich in den letzten Jahren das Bild verfestigt, dass Jüdischsein mit einer latenten Gefahr einhergeht." Die Unsicherheit, die das mit sich bringe, sei auf lange Sicht eine große Gefahr für den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft, sagte Knobloch.

Die 89-Jährige begrüßt deshalb ausdrücklich, "dass staatliche Akteure auch und gerade in Bayern auf allen Ebenen Maßnahmenpakete gegen den wachsenden Judenhass schnüren". Gesellschaft, Politik und Justiz müssen mit vereinten Kräften gegen Judenhass einstehen - "nur so senden sie die Signale von Entschlossenheit und Tatkraft, die jüdische Menschen wieder dauerhaft an ihre Zukunft hier glauben lassen", betont Knobloch.

Bekämpfung von Antisemitismus soll in die bayerische Verfassung

Eine Meinung, die auch Bayerns Antisemitismusbeauftragter, Ludwig Spaenle (CSU), teilt. Der 60-Jährige ist überzeugt, dass man vor allem mit Bildung und Wissen langfristig Erfolge gegen antisemitische Gedanken und deren Verbreitung erzielen könne. Spaenle wünscht sich ein härteres Vorgehen des Rechtsstaates "gegen Straftäter mit antisemitischen Motiven".

Der ehemalige Kultusminister möchte sein Vorhaben auch im kommenden Jahr weiter verfolgen und "das Thema Schutz jüdischen Lebens und Bekämpfung von Antisemitismus in die bayerische Verfassung und auch das Grundgesetz" mitaufnehmen. Außerdem wolle er seine Anstrengungen, Wissen über jüdisches Leben in Deutschland und Bayern zu vermitteln, weiter fortsetzen. Vor allem Vereine, Gemeinden, Kammern und Einrichtungen wie die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit sowie Museen spielen bei der Vermittlung für ihn eine bedeutende Rolle.
(Daniel Josling, dpa)

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