Politik

Anstehen fürs Essen: Immer mehr ältere Menschen sind auf Lebensmittel der Tafeln und anderer Hilfsorganisationen angewiesen. (Foto: dpa/Oliver Berg)

15.07.2022

"Die Armutsgefährdung für Rentner ist besonders groß"

Bayerns DGB-Chef Bernhard Stiedl über die Rekordinflation, hohe Lohnforderungen, die Energiekrise und ein aus seiner Sicht fehlendes Tariftreuegesetz

Bernhard Stiedl, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds Bayern, hält höhere Löhne für angemessen. Die Lohn-Preis-Spirale existiere nur „in den Köpfen der Unternehmer“. Der Arbeitnehmervertreter kritisiert, dass es derzeit viele Firmen gebe, die von den Spekulationsblasen bei Energie und Rohstoffen enorm profitierten. Für diese brauche es eine Übergewinnsteuer. Stiedl bemängelt, dass es in Bayern zu wenige Maßnahmen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse gebe. Doch er findet auch lobende Worte für die Staatsregierung.

BSZ:
Herr Stiedl, die IG Metall fordert 8 Prozent mehr Lohn, andererseits droht ein zweistelliger Konjunktureinbruch, sollten russische Gaslieferungen ausbleiben. Wie passt das zusammen?
Bernhard Stiedl: Die Gewerkschaften waren in den vergangenen zwei Jahren wegen Corona sehr zurückhaltend mit ihren Lohnforderungen. Wir haben keine prozentualen Tarifsteigerungen durchgesetzt, sondern eher Pauschalzahlungen. Wenn man sich auf der anderen Seite die Ertragslage der Unternehmen anschaut – in diesem Jahr werden 70 Milliarden Euro an Dividenden ausgeschüttet – und die Inflationsrate von über 8 Prozent, dann ist die Lohnforderung der IG Metall mehr als zeitgemäß und angemessen. Sollte sich die wirtschaftliche Situation aufgrund verminderter Gaslieferungen anders darstellen, werden die Tarifpartner darauf eine entsprechende Antwort finden.

BSZ: Heizen hohe Lohnsteigerungen die Inflation nicht noch weiter an?
Stiedl: Diese Lohn-Preis-Spirale existiert nur in den Köpfen der Unternehmer. Der Grund für die Inflation sind nicht hohe Lohnsteigerungen in der Vergangenheit. Wir haben vielmehr eine Profit-Preis-Spirale, die sich aus den hohen Energiepreisen und den gestörten Lieferketten ergibt.

BSZ: Ist die Forderung der IG Metall also Vorbild für andere Branchen?
Stiedl: Sicherlich werden auch die anderen Gewerkschaften mit einer ähnlichen Forderungshöhe einsteigen. Die Rahmenbedingungen sind ja für alle Beschäftigten gleich.

BSZ: Was halten Sie von der konzertierten Aktion, die gerade auf Bundesebene angestoßen wurde?
Stiedl: Es ist sinnvoll, wenn sich alle Beteiligten mit Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen an einen Tisch setzen und überlegen, wie man die hohe Inflation, einen eventuellen Ausfall der Gaslieferungen und auch die Corona-Pandemie gemeinsam in den Griff bekommen kann. In Bayern haben wir das ja auch schon gemacht, als Ministerpräsident Söder die Gewerkschaften und die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft an einen runden Tisch geholt hat.

BSZ: Welche Lösungen sehen Sie?
Stiedl: Wir können das Problem der hohen Inflationsrate nicht allein mit der Tarifpolitik lösen. Deshalb muss zunächst die Politik reagieren. Es braucht ein weiteres Entlastungspaket. Vor allem muss es zielgenauere Hilfen für Bedürftige geben. Gerade Rentnerinnen und Rentner sowie Studierende wurden bei den bisherigen Maßnahmen kaum berücksichtigt. Es braucht einen Energiepreisdeckel für Menschen mit niedrigen Einkommen. Wir fordern bis zu einem Verbrauch von 8000 Kilowattstunden im Jahr einen Preisdeckel von 7,5 Cent je Kilowattstunde und eine weitere Erhöhung des Steuergrundfreibetrages auf 12 800 Euro. Das brächte Entlastungen für alle Bezieher niedriger Einkommen.

BSZ: Das kostet Milliarden. Wo soll das Geld dafür herkommen?
Stiedl: Es gibt gerade viele Firmen, die von den Spekulationsblasen bei Energie und Rohstoffen enorm profitieren. Für diese sollte eine Übergewinnsteuer eingeführt werden.

BSZ: Wie soll der Energiepreisdeckel gerecht funktionieren, wenn der eine in einem top-isolierten Neubau lebt, die andere in einem unsanierten Altbau?
Stiedl: Die Energieverbräuche waren schon immer unterschiedlich. Wer über 8000 Kilowattstunden braucht, zahlt dafür den normalen Preis. Das ist dann ein Ansporn für Einsparungen. Wir haben den Deckel berechnet für eine 100-Quadratmeter-Wohnung, das ist ungefähr der Durchschnitt für eine mehrköpfige Familie. Das sollte also im Regelfall auch im Altbau reichen.

BSZ: Sollte es wirklich zur einer Gaskrise kommen, sind Millionen Arbeitsplätze in Gefahr. Wie ließe sich das abwenden?
Stiedl: Das ist wirklich schwierig. Nach unseren Berechnungen könnte die Arbeitslosenquote bundesweit auf 8 oder 9 Prozent steigen, in Bayern vielleicht etwas darunter. Eine wirkliche Lösung gibt es dafür nicht, denn der Umstieg auf alternative Energien, der jetzt mit Nachdruck verfolgt wird, wirkt erst in einigen Jahren.

BSZ: Könnte eine Kurzarbeiterregelung wie bei Corona zumindest dämpfend wirken?
Stiedl: Auf alle Fälle. Das hilft dabei, dass Menschen nicht gleich arbeitslos werden. Der erleichterte Zugang zum Kurzarbeitergeld ist ja bereits verlängert worden, aber die nach Dauer gestaffelten Aufstockungsbeträge auf bis zu 87 Prozent des ursprünglichen Lohnes nicht. Das müsste vor dem Herbst noch kommen.

BSZ: Bayerns Sozialministerin Scharf hat den neuen Sozialbericht für den Freistaat vorgelegt und zeichnet darin ein recht positives Bild. Zu Recht?
Stiedl: Natürlich ist die Lage in Bayern besser als in anderen Bundesländern. Wir begrüßen auch, dass die Ministerin nicht nur alles glorreich darstellt, sondern auch aufzeigt, wo noch Handlungsbedarf ist. Das betrifft zum Beispiel die Qualifizierung und Weiterbildung, das sehen wir genauso. Vermisst haben wir aber Aussagen zur wachsenden Altersarmut. Denn gerade in Bayern, das sich erst spät vom Agrar- zum Industriestaat gewandelt hat, ist die Armutsgefährdung für Rentnerinnen und Rentner besonders groß. Wenig zu lesen ist auch zum Problem der steigenden Langzeitarbeitslosigkeit in den Städten und zu den prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor mit fast einer Million Betroffener in Bayern. Da muss die Politik stärkere Antworten geben.

BSZ: Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden?
Stiedl: Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gibt es in Bayern einige Projekte, für die in den vergangenen Jahren allerdings die Mittel zurückgefahren wurden. Das muss sich wieder umkehren. Diese Personen brauchen mehr Hilfen und Unterstützung zur Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt. Bei der Altersarmut muss man an den Niedriglohnsektor heran. Das ist aber eher Aufgabe der Bundesebene. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ist ein erster Schritt, aber das reicht noch nicht. Es gibt viele Befristungen, Werkverträge und Minijobs, die aus unserer Sicht abgeschafft werden müssen. Diese Regelungen führen alle dazu, dass die Betroffenen später niedrige Renten haben.

BSZ: Bayern könnte aber zum Beispiel ein Tariftreuegesetz erlassen.
Stiedl: Das ist eine sehr alte, aber noch immer hochaktuelle Forderung von uns. Leider ist Bayern das letzte Bundesland, das noch kein Tariftreue- und Vergabegesetz hat. Es ist einfach ungerecht, dass die Firmen, die schlecht zahlen und schlechte Arbeitsbedingungen bieten, bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt werden, weil sie billiger anbieten können.

BSZ: Die Gewerkschaften haben ein historisch gewachsenes besonderes Verhältnis zur SPD. Das hat in der Zeit den Kanzlers Gerhard Schröder gelitten. Wie schaut es heute aus?
Stiedl: Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung haben gemeinsame Wurzeln. Und ja, wegen der Agenda-Politik der Regierung Schröder hat die Beziehung gelitten. Die jetzige SPD-geführte Bundesregierung hat inzwischen einige Maßnahmen auf den Weg gebracht, die wir für nötig erachten, etwa die Erhöhung des Mindestlohns oder in der Wohnungsmarktpolitik.
Aber es fehlen auch Maßnahmen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse. Grundsätzlich bewerten wir Parteien ohnehin nicht nach gemeinsamen historischen Wurzeln, sondern nach der aktuellen Politik. Wenn eine demokratische Partei, egal welche Farbe sie hat, Politik für die Arbeitnehmer*innen macht, dann hat sie uns als Partner an der Seite.

BSZ: Ihr Vorvorgänger Fritz Schösser war lange SPD-Abgeordneter. Wäre das auch was für Sie?
Stiedl: Nein. Das ist für mich kein Thema. Ich habe als neu gewählter DGB-Landesvorsitzender mit 800 000 Mitgliedern im Verband genug zu tun. Mich parallel dazu um ein Mandat zu bemühen, darauf habe ich aktuell überhaupt keine Ambitionen. (Interview: Jürgen Umlauft)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll das Gesetz für mehr Barrierefreiheit gelockert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.