Politik

Da auch doppelt Geimpfte das Virus weitertragen können, fordert Marckmann eine 3G plus- oder 2G plus-Regel. (Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand)

19.11.2021

"Die Politik sollte bei Corona weniger Angst verbreiten"

Medizinethiker Georg Marckmann über die Impfpflicht, Fehler der Regierung, die Verhältnismäßigkeit von 2G-Regeln und die mangelnde Transparenz der Gesundheitsbehörden

Georg Marckmann leitet das Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität München. Im BSZ-Interview kritisiert er, dass die Regierungen bei Corona zu viel auf Virolog*innen hören, die nur das Virus und nicht die langfristigen sozialen Folgen im Blick haben.

BSZ: Herr Marckmann, in Bayern gilt seit dieser Woche 2G, Ungeimpfte werden also vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Sind diese Maßnahmen aus Ihrer Sicht verhältnismäßig? 
Georg Marckmann: Das hängt entscheidend von der Zielsetzung ab. Wenn es darum geht, den Druck auf Ungeimpfte zum Impfen zu erhöhen, ist das eindeutig kein akzeptables Mittel.

BSZ: Was wäre eine akzeptable Zielsetzung? 
Marckmann: Die Inzidenzen zu senken und schnell die Intensivstationen zu entlasten. Allerdings können sich auch doppelt Geimpfte infizieren und das Virus weitertragen. Der Effekt auf die Inzidenzen dürfte daher nur begrenzt sein. Ungetestete Geimpfte stellen mittelfristig die größere Gefahr dar. Besser wäre daher eine 3G plus- oder 2G plus-Regel bei öffentlichen Veranstaltungen, zudem eingeschränkte Besuche von Clubs und Bars. Für die Intensivstationen dürften die Effekte aber kaum ausreichen, weil die Maßnahmen zu lange dauern, bis sie Wirkung zeigen. 

BSZ: Die Intensivstationen sind auch deswegen an ihren Belastungsgrenzen, weil Notfallbetten abgebaut wurden und Personal fehlt. Zum Jahreswechsel konnten noch doppelt so viele Patientinnen und Patienten versorgt werden. 
Marckmann: Die Knappheit bei den Intensivbetten nicht zu beseitigen, war ein großes Versäumnis. Die Politik hat die chronische Unterfinanzierung der Krankenhäuser billigend in Kauf genommen. Jetzt lässt sich das Problem nicht kurzfristig beheben – schon gar nicht mit Einmalprämien. Eine Möglichkeit wäre natürlich, wie 2020 den allgemeinen Krankenhausbetrieb auf die Corona-Versorgung umzustellen. Aber das hatte damals erhebliche negative gesundheitliche Auswirkungen auf Patienten, die nicht an Corona erkrankt waren. Die Politik muss jetzt langfristig die Arbeitsbedingungen in den Pflegeberufen verbessern.

BSZ: „Wenn 10 Apokalypse ist, stehen wir bei 9“, sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) diese Woche.
Marckmann: Mich stört es, dass die Politik viel mit Angst arbeitet. Mir wäre eine optimistischere Grundhaltung lieber. Wir hätten die ältere Bevölkerung besser schützen müssen, die Risiken für jüngere Menschen sind aber nach wie vor vergleichsweise gering. Aktuell sind auch die hohen Inzidenzen weniger das Problem, weit weniger Menschen sterben als 2020. Die Lage ist derzeit nur wegen der Situation auf den Intensivstationen so dramatisch. Dafür gilt es wie gesagt eine Lösung zu finden. 

BSZ: Im Oktober waren laut Landesamt für Gesundheit 30 Prozent der Corona-Toten doppelt geimpft. Ein Booster wird jetzt bereits nach fünf Monaten empfohlen. Was sagt das über die Wirksamkeit der Impfstoffe aus?
Marckmann: Offenbar ist die Wirkung der Corona-Impfstoffe nur von begrenzter Dauer. Zusätzlich kam die Delta-Variante auf, gegen die die aktuellen Impfstoffe weniger gut schützen. Daher sind Booster-Impfungen jetzt wichtig – vor allem für ältere und vorerkrankte Menschen. Leider wurde es versäumt, rechtzeitig eine Drittimpfung für diese Gruppen anzubieten. Zusätzlich sollten auch Pflegeeinrichtungen und Kliniken täglich testen – am besten PCR. Diskutieren lässt sich auch über eine Impfpflicht für Gesundheitspersonal. Es trägt eine besondere Verantwortung, vulnerable Personen nicht zu gefährden. 

BSZ: Befürchten Sie nicht, dass bei einer Impfpflicht noch mehr Pflegekräfte ihren Job an den Nagel hängen? 
Marckmann: Doch. Eine Impfpflicht für sie wäre als letzter Schritt grundsätzlich ethisch vertretbar, aber wir müssen natürlich mögliche negative Auswirkungen auch mitberücksichtigen. Dass sie ohne Impfung häufiger in Quarantäne müssen, verschärft die angespannte Personalsituation auf den Stationen zusätzlich. Aber natürlich könnten die negativen Effekte bei einer Corona-Impfung auf den Personalbestand größer sein. Gerade bei den hohen Infektionszahlen sollte daher jetzt vor allem das Testen Priorität haben. 

BSZ: Als sich Nationalspieler Joshua Kimmich oder Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) nicht impfen lassen wollten, waren die Proteste enorm. Sind Menschen in der Öffentlichkeit verpflichtet, Vorbilder zu sein? 
Marckmann: Menschen sollen sich impfen lassen, weil sie davon überzeugt davon sind – nicht, weil das andere tun. Ich bin auch dagegen, dass prominente Menschen Werbung für die Impfung machen. Am besten wäre es, der Impfstatus würde gar nicht diskutiert und von Medien nicht nachgefragt. Bei Aiwanger ist es ein wenig anders. Wenn die Staatsregierung Impfungen ausdrücklich verlangt, verringert es die Glaubwürdigkeit, wenn sie sich selbst nicht daran hält. Das ist, als ob ein übergewichtiger Arzt seinen Patienten zu einer gesünderen Ernährung rät. Andererseits kann ein Mensch auch ein guter Arzt sein, selbst wenn er persönlich ein ungesundes Leben führt. 

„Die 2G-Regelung für Kinder und Jugendliche ist unverhältnismäßig“

BSZ: Gratisbratwurst, Einkaufsgutschein, Versicherungsprämie: Hätte sich die Impfquote durch finanzielle Anreize weiter erhöhen lassen? 
Marckmann: Das lehne ich ab. Jede Impfung ist eine medizinische Maßnahme mit einem Nutzen- und Schadenspotenzial. Jeder, der eine solche Maßnahme wahrnimmt, sollte diese Entscheidung sachorientiert und nicht wegen irgendwelcher Vergünstigungen treffen. Wenn eine sehr hohe Impfrate tatsächlich notwendig ist, wäre es transparenter, wie bei den Masern auf einer gesetzlichen Grundlage eine Impfpflicht anzuordnen.

BSZ: Gibt es eine moralische Pflicht zur Impfung?
Marckmann: Sich impfen zu lassen ist zwar eine persönliche, individuelle Entscheidung, hat aber auch Auswirkungen auf andere Menschen. Immer, wenn sich das eigene Handeln auf andere auswirkt, trägt man moralische Verantwortung. Wie groß diese ist, hängt vom Kontext ab – beispielsweise ob man viel mit Menschen mit schlechtem Immunstatus zu tun hat. Ohne Impfung erhöht sich das Risiko, selbst zu erkranken, andere anzustecken und Dritten zu schaden. Es ist aber im Einzelfall abzuwägen, wie groß die Gefährdung und Verpflichtung anderen gegenüber ist. 

BSZ: Wie ist es bei Kindern und Jugendlichen? In vielen Bereichen gelten auch für sie die 2G-Regeln – also impfen oder draußen bleiben.
Marckmann: Das ist unverhältnismäßig. Kinder und Jugendliche leiden erheblich unter den Infektionsschutzmaßnahmen, aber nicht an der Infektionskrankheit. Sie sind keine Treiber der Pandemie und haben ein äußerst geringes Risiko, selbst schwer zu erkranken oder gar zu sterben. Es wäre angemessen, sie Geimpften gleichzustellen. Stattdessen sollten Lehrkräfte beim Boostern Priorität haben. Auch dass sich Jugendliche, als es noch keinen zugelassenen Impfstoff für sie gab, für die Teilnahme am kulturellen Leben testen lassen mussten, war nicht verhältnismäßig. 

BSZ: War die Regierung falsch beraten?
Marckmann: Die Politik muss auf das Infektionsgeschehen reagieren, obwohl es kaum vorhersagbar ist. Daher ist es richtig, wenn die Wissenschaft eine große Rolle in der Politikberatung spielt. Was ich kritisiere: dass die wissenschaftliche Expertise vor allem von wenigen Virologen kam. Sie haben bei den ersten Wellen nur die Risiken durch Covid-19 gesehen und nicht ausreichend die langfristigen negativen Folgen durch die Infektionsschutzmaßnahmen betrachtet. Hier wäre mehr Expertise aus dem Public-Health-Bereich erforderlich gewesen. Sie beschäftigen sich nicht ausschließlich mit Viren, sondern generell mit der Gesundheit der Menschen und wissen dadurch besser, wie ein komplexes Infektionsgeschehen zu managen ist – speziell im Hinblick auf die beruflichen, sozialen und kulturellen Folgen.

BSZ: Viele Menschen wünschen sich von der Politik mehr Transparenz – beispielsweise bei der genauen Impfquote oder Nebenwirkungen. 
Marckmann: Es gibt keine Alternative zur Transparenz. In Ländern, die Corona erfolgreicher bekämpfen, haben die Menschen großes Vertrauen in ihre Gesundheitsbehörden – beispielsweise Norwegen. Dort kommt alles auf den Tisch und wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es ist natürlich verführerisch – das kenne ich aus der Medizin –, Patienten nicht vollständig aufzuklären, weil sie sich dadurch leichter zu einer Therapie bewegen lassen. Aber das ist genauso inakzeptabel. Die Bevölkerung merkt es, wenn zum Beispiel die kostenlosen Bürgertests abgeschafft werden, um die Impfquote zu erhöhen. Das untergräbt das Vertrauen in die Maßnahmen. 

BSZ: Obwohl zwei Drittel der Menschen geimpft sind, werden auch dieses Jahr wieder viele Veranstaltungen abgesagt – beispielsweise trotz 2G-Bedingungen der Münchner Weihnachtsmarkt. Geht das jetzt die nächsten Winter immer so weiter? 
Marckmann: Als Ethiker bin ich Experte für das, was sein soll, nicht für das, was sein wird. (lacht) Tatsächlich ist die Entwicklung nur schwer vorherzusagen. Wir werden weiter mit Unsicherheit leben müssen. Vieles hängt davon ab, ob es neue Mutationen gibt, wie die Impfstoffentwicklung voranschreitet, wie sich die Bevölkerung verhält und ob sich mehr Menschen impfen lassen. (Interview: David Lohmann)

Foto: Ives Krier

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