Politik

Seit 50 Jahren gibt es in Bayern Migrationsbeiräte, die einen Beitrag zur Integration von Migrant*innen leisten und deren politische Teilhabe ermöglichen. (Foto: dpa/Lux)

24.03.2023

Die Unsichtbaren

Seit 50 Jahren gibt es in Bayern Migrationsbeiräte – doch kaum jemand weiß es

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit fanden am vergangenen Sonntag die Wahlen für den Migrationsbeirat in München statt. Die Wahlbeteiligung lag bei gerade einmal 3,1 Prozent. Was bei anderen Wahlen in Bayern auch unvorstellbar wäre: Erst am 29. März wird offiziell bekannt gegeben, wer überhaupt in das Gremium gewählt worden ist. Dabei ist der Beirat eine der wenigen Möglichkeiten der politischen Teilhabe für Menschen ohne deutschen Pass. Er vertritt immerhin rund 400 000 Menschen aus 180 Ländern in der Landeshauptstadt.

Der Migrationsbeirat hat ein eigenes Budget. Damit fördert er unter anderem integrative Projekte und Veranstaltungen. In allen Belangen, die Nichtdeutsche betreffen, muss die Stadtverwaltung das Gremium einschalten, damit deren Interessen gewahrt werden. Dazu fassen die Mitglieder Beschlüsse, mit denen sich sowohl die Verwaltung als auch der Stadtrat auseinandersetzen müssen.

Etwa mit Initiativen wie der Änderung der Inschrift des Denkmals am Olympia-Einkaufszentrum. Dort ist seit 2019 nicht mehr von einem „Amoklauf“ die Rede, sondern von einem „rassistischen Attentat“, bei dem 2016 neun Menschen getötet worden waren.

Öffentlich wahrgenommen wurden aber andere Themen. Etwa, dass seit der Wahl 2017 auch Personen im Gremium sitzen, die in Verbindung zu extremistischen Gruppierungen wie der als Graue Wölfe bekannten Ülkücü-Bewegung beziehungsweise zur kurdischen Arbeiterpartei PKK stehen.

Ein Sprecher des Landesamts für Verfassungsschutz bestätigt die Beobachtung mehrerer Organisationen aus dem Bereich des auslandsbezogenen Extremismus, „die grundsätzlich ein Interesse an der Partizipation in Migrationsbeiräten haben könnten“. Vereinzelt hätten sich auch Personen zur Wahl gestellt, die einen extremistischen Hintergrund haben. Es gebe aber keine Erkenntnisse über gezielte Versuche, die Gremien in Bayern zu unterwandern. Der Sprecher betont auch, dass die Beiräte selbst nicht beobachtet werden.

Jüngster Aufreger um den Migrationsbeirat in München war im vergangenen Jahr ein heftiger Streit im Stadtrat: Grüne und CSU setzten sich dabei gegen alle anderen Fraktionen mit ihrem Plan durch, dem Migrationsbeirat künftig zehn von der Politik bestimmte, ebenfalls stimmberechtigte Personen zur Seite zu stellen. Ihr erklärtes Ziel war es, damit die Wirkungskraft des Migrationsbeirats zu stärken.

„Eine Bevormundung“ nennt das dagegen Dimitrina Lang, die Vorsitzende des bisher 40-köpfigen Beirats. „Wir sind überparteilich, da hat die Politik nichts verloren. Wir reden hier nicht über Tunnelbau, wir reden über Rassismus, Diskriminierung im Alltag, am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche.“

33 Beiräte sind beim Dachverband, der Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY), gemeldet, darunter sind die 13 größten Städte des Freistaats. So unterschiedlich die Namen der Gremien von Bad Kissingen bis zum Landkreis Oberallgäu sind, so verschieden sind auch ihre Satzungen. In Bamberg beispielsweise bilden nur direkt gewählte Mitglieder das Gremium. In anderen Städten, zum Beispiel in Ingolstadt, haben die Gewählten Stimmrecht, die von der Politik Ernannten dagegen nur beratende Funktion. Woanders gibt es nur ernannte Mitglieder.

Das Ziel: miteinander ins Gespräch kommen

Was alle eint, ist ihre Funktion: die migrantische Bevölkerung sichtbar zu machen. In der Politik, der Verwaltung und der Gesellschaft. 1973 wurde in Nürnberg der erste bayerische Ausländerbeirat gegründet, es folgten viele weitere, in München etwa 1974. Denn die Kommunen erkannten, dass sie einen direkten Draht zu der immer stärker wachsenden nichtdeutschen Bevölkerung brauchten. Gleichzeitig boten die Beiräte die Chance, Migrant*innen die Kommunalpolitik nahezubringen.

Erfüllen die Beiräte ihren Zweck? Ja, sagt Mitra Sharifi Neystanak, die Vorsitzende der AGABY. Aus ihrer Sicht ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass die Gremien Gesprächskanäle in alle Richtungen herstellen. Sie seien auch sofort zur Stelle, wenn es darum geht zu helfen, etwa zuletzt beim Spendensammeln für Erdbebenopfer in der Türkei. Und sie positionierten sich klar gegen Rassismus und Extremismus.

Die Wahlbeteiligung ist bei jeder Migrationsratswahl niedrig. „Das hat auch mit dem Charakter eines beratenden Gremiums zu tun“, sagt die AGABY-Vorsitzende. Wahlkampf findet wegen fehlender Ressourcen praktisch nicht statt.

Seit Jahrzehnten kämpfen die migrantischen Vertreter*innen auf höheren politischen Ebenen für eine Änderung des Wahlrechts – damit auch Nichtdeutsche bei Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben können. Bisher ist dieses Recht EU-Bürger*innen vorbehalten. „Eine Demokratie lebt davon, dass möglichst viele Menschen daran teilhaben“, sagt Sharifi Neystanak.

Für eine Wahlrechtsänderung bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit des Bundestags – derzeit undenkbar. Die Union ist ebenso wie die AfD dagegen. Auch bei der Ampel-Koalition hat das Thema keine Dringlichkeit. Immerhin könnte es bei der nächsten Migrationsbeiratswahl in München wieder eine höhere Wahlbeteiligung geben. Bei der Reform einigte sich der Stadtrat auf eine parallele Ausrichtung von Kommunal- und Migrationsbeiratswahl. Das dürfte die Sichtbarkeit erhöhen. (Thorsten Stark)
 

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