Politik

Ein Monat Knast, weil man die Strafe von 600 Euro nicht bezahlen kann - dieses Schicksal triff manchen Schwarzfahrer oder Ladendieb. (Foto: dpa)

26.01.2018

Die Zwei-Klassen-Justiz

Ersatzfreiheitsstrafen nehmen zu: Doch deren Nutzen ist umstritten – Experten fordern die Abschaffung

Wer eine Geldstrafe nicht zahlt, muss ins Gefängnis. Zehntausende Menschen sitzen wegen Kleinstdelikten mehrere Wochen oder Monate ab. Wegen dreistelliger Millionenkosten und weil vor allem Arme betroffen sind, fordern immer mehr Experten deren Abschaffung.

Es ist schon einige Zeit her, da kam jemand, der seine Schulden nicht mehr zahlen konnte, in ein ganz besonderes Gefängnis: im Volksmund Schuldturm genannt. Im Mittelalter und noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verhängte die Justiz in Deutschland die Schuldhaft. Ein Ort, an dem Menschen de facto dafür eingesperrt wurden, dass sie arm waren. So etwas Ähnliches gibt es auch heute noch.

Tausende Menschen sitzen zurzeit in Deutschland eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe ab, ohne dass sie zu einer Freiheitsstrafe, ja noch nicht einmal auf Bewährung, verurteilt wurden.

Ihnen wurde lediglich eine Geldstrafe auferlegt. Diese konnten sie jedoch nicht zahlen, weshalb die Justiz die Geldstrafe ersatzweise in eine Freiheitsstrafe umgewandelt hat. Wird etwa ein Angeklagter zu 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt, müsste er einen kompletten Monat in Haft, wenn er die 600 Euro nicht aufbringen kann. Darunter sind viele Schwarzfahrer oder auch Ladendiebe.

In der Regel sind es Geringverdiener oder Arbeitslose. Im Bundesschnitt belegen Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafe inzwischen rund 10 Prozent der regulären Haftplätze. Bundesweit stieg deren Anteil innerhalb der vergangenen zehn Jahre um ein Viertel, in Bayern sogar um 65 Prozent.

Da eine Ersatzfreiheitsstrafe im Schnitt vier Wochen dauert, ist auf das Jahr gerechnet von weit mehr als 70 000 Fällen zwischen Garmisch und Flensburg auszugehen. Wie viele Menschen genau pro Jahr bundesweit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, wird seit einer Umstellung der Strafvollzugsstatistik 2003 nicht mehr erhoben. Die letzte Zahl stammt aus dem Jahr 2002, damals waren es 65 000 Fälle im Jahresverlauf.

200 Millionen Euro Kosten für den Steuerzahler

Fakt ist: Wer etwa in der Bundeshauptstadt drei Mal ohne gültigen Fahrschein ertappt wird, muss mit einer Strafanzeige rechnen. Im Berliner Skandal-Knast Plötzensee verbüßen bis zu einem Drittel der Insassen Ersatzfreiheitsstrafen. 200 Millionen Euro kosten die Ersatzfreiheitsstrafen den Steuerzahler jedes Jahr bundesweit. Wer wegen dieser erzwungenen Auszeit hinter Gittern Arbeit oder Wohnung verliert, dem droht der soziale Absturz.

Auch aus diesem Grund verurteilen Gerichte normalerweise niemanden zu Haftstrafen von wenigen Monaten – und setzen diese, wenn sie sie als Warnschuss dennoch verhängen, zumeist auf Bewährung aus. Heinz Cornel, Professor für Jugendrecht, Strafrecht und Kriminologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin, sagt: „Es ist skandalös, so viel Geld zu verwenden, um Menschen aufgrund von Armut und einem Mangel an sozialen Kompetenzen wegen kleinerer Delikte wegzusperren.“ Statt Strafe bräuchten die Betroffenen Hilfsangebote, findet auch Nicole Bögelein vom Institut für Kriminologie der Universität Köln: „Die Betroffenen haben oft multiple Probleme wie hohe Verschuldung, Suchtbelastung und sehr ungeregelte Lebenssituationen bis hin zur Obdachlosigkeit.“

Zwar besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass Schwarzfahrer und Kleinstkriminelle Ersatzhaftstrafen durch soziale Arbeit abwenden können. Doch viele Betroffene haben psychische oder gesundheitliche Probleme, sind deshalb dazu nicht in der Lage.

Klar ist: Das Leben eines mehrfach beim Schwarzfahren erwischten Hilfsarbeiters wird nach einem halben Jahr im Gefängnis sicher nicht erfolgreicher verlaufen – manche kommen dort sogar erst mit Drogen in Kontakt. Sozialarbeiter kritisieren zudem, dass der Tagessatz manchmal zu hoch angesetzt werde, etwa, weil dem Gericht die Geldverhältnisse des Verurteilten nicht bekannt seien.

Ein weiteres Problem: Setzt das Gericht die Geldstrafe nach dem Netto-Einkommen fest, kann dies einen Empfänger von Hartz IV oder einen Niedriglöhner schnell überfordern, wenn er auch noch einen Kredit offen hat. Und wer bereits insolvent ist, muss das Geld sogar von seinem eigentlich nicht pfändbaren Existenzminimum abknapsen.

In vielen anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Schweden unterliegt die Ersatzfreiheitsstrafe strengen Voraussetzungen und wird deshalb weit seltener als hierzulande verhängt.

Linke und Grüne fordern die Abschaffung von Ersatzhaftstrafen. Der Richterbund und der CDU-Justizminister in NRW wollen sie zumindest bei Schwarzfahrern aus dem Strafgesetzbuch streichen und so auch Gerichte und Gefängnisse entlasten. Der Freistaat hält davon allerdings nichts. „Aus Sicht Bayerns ist die Ersatzfreiheitsstrafe ein wichtiger Baustein im Sanktionensystem des Strafgesetzbuches“, sagt ein Sprecher des Justizministeriums der Staatszeitung. Auch weil wirksame Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe nicht ersichtlich seien. Zudem habe die Ersatzfreiheitsstrafe zur Folge, dass die geschuldete Geldstrafe nach Feststellung der Uneinbringlichkeit oft doch noch gezahlt werde.
(Tobias Lill)

Kommentare (1)

  1. Wieland Kretschmer am 26.01.2018
    Aha, die Ersatzhaftstrafen machen angeblich keinen Sinn und das Geld fehlt den Veurteilten auch. Ja, dann lassen wir sie doch gleich laufen, ist doch egal, dass sie Straftaten begangen haben und dafür eine Schuld gegenüber der Gesellschaft abtragen müssen. Warum überhaupt noch Urteile fällen gegenüber Kriminellen? (Außer natürlich gegen alle, die was gegen "Geflüchtete" sagen, die gehören selbstverständlich lebenslang weggesperrt wenn es nach Linken und Grünen geht.)
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