Politik

Bei einer Fesselung ans Bett, die länger als eine halbe Stunde dauert, reicht eine Anordnung des Arztes nicht aus, urteilte das Gericht. (Foto: dpa)

24.07.2018

Fixierung nur mit Richter-Zustimmung

Wenn ein Psychiatrie-Patient tobt und schlägt, kann er ans Bett gefesselt werden. Bisher reichte dazu meistens die Anordnung eines Arztes. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen verschärft

Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte von Patienten in der Psychiatrie bei der zeitweisen Fesselung ans Bett gestärkt. Für längere Zeit darf diese Zwangsmaßnahme nur nach einer richterlichen Entscheidung getroffen werden, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe. Zwei Betroffene aus Bayern und Baden-Württemberg hatten Verfassungsbeschwerden eingereicht. Der eine Patient war stark betrunken, der andere hatte wiederholt mit Gegenständen geworfen. (Az. 2 BvR 309/15 u.a.)

Wenn eine Fixierung an Beinen, Armen und Bauch - in einigen Fällen zusätzlich um Brust und Stirn - absehbar länger als eine halbe Stunde dauert, reicht dem Urteil zufolge die Anordnung eines Arztes nicht aus. Wird eine Fixierung in der Nacht vorgenommen, muss eine richterliche Entscheidung am nächsten Morgen eingeholt werden.

Die Fixierung eines Patienten sei ein Eingriff in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person nach Artikel 104 des Grundgesetzes, sagte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Andreas Voßkuhle. Sie sei nur als letztes Mittel zulässig, wenn mildere Mittel nicht in Betracht kommen. Eine Fixierung werde "umso bedrohlicher erlebt, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos ausgeliefert sieht".'

Über die Unterbringung von Patienten in der geschlossenen Psychiatrie entscheidet in Deutschland ein Richter. Der Zweite Senat gibt den Ländern Bayern und Baden-Württemberg bis zum 30. Juni 2019 Zeit, verfassungsgemäße Rechtsgrundlagen zu schaffen.

Fixierter Patient muss durchgehend überwacht werden

Das Bundesverfassungsgericht verlangt außerdem, dass ein fixierter Patient durchgehend durch pflegerisches oder therapeutisches Personal überwacht wird. Die Maßnahme muss dokumentiert werden und der Patient ist darauf hinzuweisen, dass er sie nachträglich gerichtlichen überprüfen lassen kann.

Ein zuständiger Richter muss zumindest tagsüber erreichbar sein, um Fixierungen anordnen zu können. Eine nachträgliche richterliche Anordnung ist nur in Fällen wie Selbst- oder Fremdgefährdung zulässig.

Vertreter der Beschwerdeführer äußerten sich nach dem Urteil zufrieden. Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) sagte, er nehme die Aufgabe einer Präzisierung des Gesetzes an. "Das sehen wir als händelbar aus klinischer Sicht, und dass das auch hinterher von Gerichten überprüft wird, ist für uns selbstverständlich. Da hätten wir auch selber drauf kommen können." Er werde mit dem Justizminister reden, wie ein richterlicher Bereitschaftsdienst organisiert werden kann, sagte Lucha. Er gehe davon aus, dass sich jetzt alle Länder ihre Gesetze anschauen und die Vorgaben umsetzen.

"Es ist ein Drama in Bayern, dass es bei diesen hochsensiblen Themen immer erst massiven öffentlichen Druck oder höchstrichterliche Entscheidungen benötigt, um elementare Bürgerrechte zu schützen", kritisiert Martin Hagen, Spitzenkandidat der FDP Bayern. Der Freistaat müsse nun innerhalb eines Jahres nachbessern. (BSZ/dpa)

INFO: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Wer sind die Beschwerdeführer?
Zwei Männer aus Bayern und Baden-Württemberg wehrten sich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ihre Fesselung. Ein Betroffener wurde in München acht Stunden lang an Füßen, Händen, Bauch, Brust und Kopf so am Bett fixiert, dass er nicht einmal mehr den Kopf bewegen konnte. Er war stark betrunken und galt als gefährlich für sich selbst. In Baden-Württemberg hatte ein Mann in der Psychiatrie mit Gegenständen geworfen. Deswegen wurde er über mehrere Tage zeitweise festgebunden.

Gibt es Zahlen?
Kaum. Eine Verfassungsrichterin gab an, in Baden-Württemberg seien es 2016 rund 17 600 einzelne Fälle von Fixierungen bei 5300 Patienten gewesen. Auch in klinischen Bereichen außerhalb der Psychiatrie spielen Fixierungen eine Rolle, etwa wenn Patienten nach Operationen verwirrt sind. Entschieden wurde jetzt aber nur über die öffentlich-rechtliche Unterbringung in der Psychiatrie. Viele Betroffene empfänden den Verlust ihrer Bewegungsfreiheit als erniedrigend, berichteten Experten bei der mündlichen Verhandlung.

Wie ist die Rechtslage?
Für die Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie ist ein richterlicher Beschluss erforderlich. Für die anschließenden Fixierungen reichte nach der bisherigen Gesetzeslage in den meisten Bundesländern die Anordnung eines Arztes. In einigen Ländern gibt es bereits den sogenannten Richtervorbehalt. Dort müssen die Maßnahmen innerhalb kurzer Zeit von einem Richter geprüft werden. In Bayern befasst sich der Landtag mit einer entsprechenden Gesetzesnovelle. Die Beschwerdeführer stützen sich auf die Artikel 2 und 104 des Grundgesetzes zur Freiheit der Person. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sprach in der mündlichen Verhandlung von der staatlichen Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung. Sie sei nur in besonderen Fällen verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?
Eine Fixierung von mehr als einer halben Stunde Dauer muss als "Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung" von einem Richter genehmigt werden. Wenn das in Notfällen wie Eigen- oder Fremdgefährdung etwa in der Nacht nicht sofort möglich ist, muss es am nächsten Morgen nachgeholt werden - es sei denn, die Maßnahme ist bis dahin wieder aufgehoben und wird absehbar nicht wiederholt. Ein richterlicher Bereitschaftdienst von 6.00 Uhr bis 21.00 Uhr muss eingerichtet werden. Fixierte Patienten müssen durchgehend eins zu eins von Fachpersonal überwacht werden, alle Maßnahmen sind zu dokumentieren. Bayern und Baden-Württemberg haben bis Ende Juni 2019 Zeit, eine verfassungskonforme Rechtsgrundlage zu schaffen.

Welche Alternativen zur Fixierung gibt es?
Pfleger und Ärzte setzen in kritischen Situationen mit Patienten zunächst auf Deeskalation. Experten aus der psychiatrischen Praxis berichteten bei der mündlichen Verhandlung, dass nur als letztes Mittel zur Fixierung gegriffen werde, wenn Patienten sich oder andere gefährden und nicht anders zu beruhigen sind. Wie andere Länder mit solchen Fällen umgehen - körperliches Festhalten in Großbritannien, Isolierung in den Niederlanden oder Zwangsmedikation - wurde unterschiedlich beurteilt. Einig sind sich Fachleute, dass mehr Personal das Problem verkleinern könnte. (dpa)

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