Politik

12.08.2022

"Für ein so reiches Land ist das beschämend"

Bayerns VdK-Chefin Ulrike Mascher über den Euphemismus der Staatsregierung, die Situation armer Rentnerinnen und Kinder, die mangels Geschenk auf keinen Geburtstag gehen

Die Lebensmittelpreise steigen, die Energiekosten explodieren, fast alles wird teurer – und zu leiden haben darunter vor allem arme Menschen. Ihre Not werde durch die aktuelle Lage noch einmal verschärft, warnt Ulrike Mascher im BSZ-Interview. Die bayerische Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK sieht vor allem zwei Gruppen zunehmend in Existenznot: Alleinerziehende und Rentnerinnen. Dass die Staatsregierung unterdessen in ihrem Sozialbericht eine durchweg positive Bilanz zieht, ist aus Sicht Maschers nichts als Schönfärberei.

BSZ: Frau Mascher, die Staatsregierung hat gerade ihren fünften Bericht zur sozialen Lage in Bayern vorgestellt. „Bayern ist Chancenland. Bayern ist Familienland“, heißt es darin. Und: „Bayerns soziales Netz trägt.“ Können Sie das so unterschreiben?
Ulrike Mascher: Nein, das kann ich leider nicht. Allein wenn ich an zwei Gruppen denke, die auch in Bayern besonders stark armutsgefährdet sind, dann kann von gleichen Chancen überhaupt keine Rede sein. Zum einen sind das ältere Menschen, und hier besonders ältere Frauen. Von ihnen höre ich in Gesprächen immer wieder einen Satz: „Ich habe mein Leben lang gearbeitet, und jetzt reicht mir meine Rente nicht mal zum Leben.“

BSZ: Dabei heißt eines der zentralen Ergebnisse im Sozialbericht der Staatsregierung: „Die finanzielle Absicherung im Alter ist gewährleistet.“
Mascher: Aber das entspricht in etlichen Fällen leider nicht der Realität. Gerade viele ältere Frauen, die sich jahrelang um die Kindererziehung und um die Versorgung ihrer Familie gekümmert haben und daher nicht oder nur in Teilzeit arbeiten konnten, bekommen heute eine Rente, die schlicht nicht zum Leben ausreicht – gerade in Städten wie München oder Nürnberg.

BSZ: Und wie kann man diesen Menschen helfen?
Mascher: Wichtig ist, dass sich Frauen darüber im Klaren sind, dass eine Ehe heute wie auch schon früher schlicht keine ausreichende Altersvorsorge ist. Bei älteren Menschen ist ein Problem, dass viele aus Scham nicht zum Amt gehen, um mit der Grundsicherung ihre Rente aufzustocken. Einige glauben auch, dass ihre Kinder in diesem Fall zur Kasse gebeten würden – doch das ist nicht der Fall.

BSZ: Sie sprachen eingangs von zwei Gruppen, die besonders armutsgefährdet sind.
Mascher: Die zweite Gruppe sind Kinder und Jugendliche in alleinerziehenden Familien, was in den meisten Fällen alleinerziehende Mütter bedeutet. Hier sind wir von einer Chancengleichheit noch meilenweit entfernt, da bei diesen Familien die gesellschaftliche Teilhabe oft an den finanziellen Möglichkeiten scheitert. Das betrifft ganz alltägliche Dinge – zum Beispiel, wenn ein Kind nicht zum Geburtstag gehen kann, weil das Geld für ein Geschenk fehlt.

BSZ: Gerade für Alleinerziehende gibt es doch viele Hilfsangebote von staatlicher Seite.
Mascher: Ja, es gibt verschiedene Leistungen, die Alleinerziehenden zustehen. Aber dafür müssen sie jedes Mal einen neuen Antrag stellen und sich jedes Mal wieder in die Bittstellerrolle begeben. Deshalb fordern wir schon seit Längerem, alle Unterstützungsleistungen für Kinder in einer Kindergrundsicherung zusammenzufassen.

BSZ: Genau das ist eines der zentralen Vorhaben der regierenden Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Sie will außerdem das Hartz-IV-System umbauen, und der Mindestlohn wurde bereits erhöht. Zumindest in Berlin scheinen ihre Forderungen also gehört zu werden.
Mascher: Gerade die Erhöhung des Mindestlohns ist fraglos ein sehr wichtiger Schritt – auch wenn wir uns für 13 Euro statt jetzt zwölf Euro die Stunde eingesetzt hatten. Das große Problem ist jedoch, dass solche positiven Schritte den aktuellen Entwicklungen hinterherlaufen. Auch bei der Kindergrundsicherung bahnt sich ein Fortschritt an. Aber trotzdem wird da eine Lücke bleiben zu den Preissteigerungen, die wir derzeit erleben.

"Von gleichen Chancen kann keine Rede sein"

BSZ: Sie meinen die Teuerungen, vor allem im Bereich Lebensmittel und Energie?
Mascher: Jeder merkt derzeit, dass der Wochenendeinkauf deutlich mehr kostet als noch vor ein paar Monaten. Und gerade Menschen, die ohnehin schon wenig Geld zur Verfügung haben, bringt diese Entwicklung in enorme Schwierigkeiten. Dazu kommen die Ängste und Sorgen vor steigenden Energiepreisen. Wenn ich jetzt die ganzen Tipps aus der Politik höre, wie man weniger heizen oder Strom sparen soll, dann kann ich nur sagen: Das sind alles Dinge, die gerade viele ältere Menschen und Alleinerziehende schon längst tun. Denn sie sind dazu gezwungen, an allen Ecken und Enden zu sparen, sparen, sparen.

BSZ: Auch die Tafeln in Bayern erleben seit einiger Zeit eine steigende Nachfrage.
Mascher: Ganz einfach, weil die Zahl der Menschen zunimmt, die durch den Besuch einer Tafel versuchen, sich ein bisschen Spielraum im Alltag zu verschaffen. In München hat die Tafel beispielsweise einen eigenen Abgabetermin am Samstag für Menschen, die in Vollzeit arbeiten. Allein das ist doch beschämend in so einer reichen Stadt und in so einem reichen Land.

BSZ: Also ist Bayern doch nicht überall „ein sozial und wirtschaftlich starkes Land“, wie es im Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage im Freistaat heißt?
Mascher: Natürlich leben viele Menschen hier in Bayern ein gutes Leben, und ich will auch die Bemühungen der Landespolitiker nicht kleinreden. Aber was ich kritisiere, sind solche Formulierungen wie im Sozialbericht, da sie die Situation besser darstellen, als sie in Wirklichkeit ist. Ich bin der Meinung, die Politik sollte klar sagen: Ja, es gibt auch in Bayern Armut. Und ja, die Zahl der armutsgefährdeten Menschen nimmt auch im Freistaat zu. Das zeigt beispielsweise der neue Armutsbericht der Stadt München.

BSZ: Demnach lebten 2017 knapp 270 000 Menschen in der bayerischen Landeshauptstadt in relativer Armut – also in einem Haushalt, dessen Nettoeinkommen bei unter 60 Prozent des Durchschnitts lag.
Mascher: Und nach den neuesten Daten, die uns vorliegen, ist diese Zahl in den vergangenen vier Jahren noch einmal deutlich gestiegen – auf jetzt 300 000 Personen. Leider werden diese armen Menschen nicht ausreichend gehört, auch weil sie für die Politik keine interessante Wählergruppe darstellen. Schließlich sind viele von ihnen nicht besonders motiviert, zur Wahl zu gehen, weil sie sich denken: Die da oben machen ohnehin nichts für uns.

BSZ: Ähnlich wie armen Menschen fehlt auch den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen oftmals die Lobby. Wie ist aus Ihrer Sicht derzeit die Lage in den Senioren- und Pflegeheimen im Freistaat?
Mascher: Hier sehe ich zwei große Problemfelder. Das erste ist der hinlänglich bekannte Fachkräftemangel, der sich durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärft hat. Das zweite Problem ist der Eigenanteil, den ein Patient im Pflegeheim bezahlen muss und der inzwischen bei durchschnittlich 2238 Euro pro Monat liegt.
Das ist eine große finanzielle Belastung, gerade in Zeiten rasant steigender Preise. Hier ist die Frage, ob nicht das Land Bayern unterstützend eingreift und die Kosten für die Infrastruktur der Heime übernimmt. Das wäre eine große Erleichterung, weil der Eigenanteil dadurch signifikant gesenkt würde.

BSZ: Wobei die meisten Pflegebedürftigen in Bayern nicht etwa in Heimen, sondern zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt werden.
Mascher: Diese Gruppe macht etwa 80 Prozent der Pflegebedürftigen aus. Zum Vergleich: In Pflegeheimen leben gut 20 Prozent. Und bei der Pflege zu Hause sehe ich ein noch viel größeres Problem, nämlich dass bestimmte Leistungen zwar von der Pflegekasse finanziert werden, sie aber in der Praxis nirgendwo angeboten werden. In Städten wie München ist es beispielsweise unmöglich, eine Nachtpflege zu finden. Nicht viel besser sieht es bei der Kurzzeitpflege aus, wenn Angehörige beispielsweise in einen dringend benötigten Urlaub fahren wollen. Auch hier fehlt es gerade in Ballungsräumen schlicht an Angeboten.

BSZ: „Pflegebedürftige sind gut versorgt.“ Auch diesem Satz aus dem Sozialbericht können Sie sich also nicht anschließen?
Mascher: Nein, denn auch hier gibt es leider Personengruppen, auf die das nicht zutrifft – und ihre Zahl nimmt stetig zu. Gerade deshalb wäre es so wichtig, dass die Politik die aktuelle Lage nicht schönredet. Denn nur, wenn die Unzulänglichkeiten klar benannt werden, lässt sich erkennen, wo der Bedarf am größten ist – und wo man gezielt anpacken sollte. (Interview: Patrik Stäbler)

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