Politik

Nach einer Gesetzesänderung müssen sich nicht mehr alle Parteien einer Gerichtsverhandlung im selben Raum befinden. (Foto: dpa/Marcel Kusch)

12.07.2024

Gerichtsverhandlung per Zoom?

Ein neues Bundesgesetz erlaubt künftig vollvirtuelle Verhandlungen vom Homeoffice aus – Bayern will das nicht

Das Justizgebäude in Nürnberg ist ein historischer Prachtbau, dessen Bedeutung über die Stadt hinausreicht. In einem Beitrag auf der Website ist von 2000 Jahren Rechtsgeschichte zu lesen, die hier in Stein gehauen sei; an anderer Stelle ist es als Bayerns größtes Justizgebäude bezeichnet. König Ludwig III. weihte das Gebäude vor mehr als 100 Jahren ein; die Kriegsverbrecherprozesse in Saal 600 machten es nach 1945 weltberühmt. Welche Zukunft haben die Gerichtssäle, wenn sich der Zivilprozess nun modernisiert? Wie digital soll er werden?

Gerichte der Länder und des Bundes beraten seit Jahren über Reformen, die nun in Gesetze umgesetzt werden sollen. Es geht um beschleunigte Onlineverfahren, ein digitales Justizportal – und um Videoverhandlungen. Entgegen der Annahme in der Öffentlichkeit machten nicht Straf-, sondern Zivilprozesse den Löwenanteil der Gerichtsbarkeit aus, sagt Thomas Dickert, Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) Nürnberg. Deshalb setzten die Reformen dort an. Klar sei, dass sie sich auf den Strafprozess auswirken werden. 

Dickert hat die Reformen mit angestoßen, als er vor Jahren ein Diskussionspapier veröffentlichte. Darin heißt es: „Es soll die Möglichkeit einer virtuellen Verhandlung per Videokonferenz geschaffen werden, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhalten muss.“ Die Öffentlichkeit solle gewährleistet werden, indem die Verhandlungen in einen vom Gericht bestimmten Raum in Bild und Ton übertragen werden.
 
Bislang laufen Videoverhandlungen im Gerichtsgebäude ab. Aber ein neues Bundesgesetz sieht künftig auch vollvirtuelle Verhandlungen vom Homeoffice der Richter und Richterinnen aus vor. Beginn einer neuen Entwicklung? Der Gesetzentwurf des Bundes war den Ländern zu weit gegangen und mehrfach nachverhandelt worden. Bundestag und Bundesrat haben Änderungen zugestimmt.

Hauskatze im Bild

Nun liege das Gesetz beim Bundespräsidenten zur Unterzeichnung, heißt es im Bundesjustizministerium. Nach Veröffentlichung tritt es in Kraft. Ein Kompromiss sieht vor, dass Länder vollvirtuelle Verhandlungen zur Erprobung zulassen können. Laut Bundesjustizministerium erfolgen Videovernehmungen von Zeug*innen und Sachverständigen in Echtzeit. Aufzeichnungen sind untersagt. Mit dem Gesetz erhielten Richterinnen und Richter mehr Flexibilität bei der Planung und Durchführung, gleichzeitig werde das Antragsrecht der Parteien gestärkt. Das Gesetz eröffne damit mehr Möglichkeiten als bisher, Videoverhandlungen durchzuführen. 

Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) sagte, Videoverhandlungen im Zivilverfahren gehörten in Bayern längst zum Gerichtsalltag. Etwa 13.000 Videoverhandlungen und -anhörungen habe es allein 2023 im Freistaat gegeben. Alle 99 Gerichte in Bayern verfügten über eine Videokonferenzanlage. Er dringt auf „mehr Tempo“ bei der Digitalisierung. Der bestehende gesetzliche Rahmen sei „noch viel zu oft ein Hemmschuh und muss durch den Bund an vielen Stellen modernisiert werden“.

Doch die vollvirtuelle Verhandlung ist ihm nun offenbar zu viel Tempo. Sein Justizministerium schreibt auf Anfrage: „Die bayerische Staatsregierung beabsichtigt nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Die Leitung einer Gerichtsverhandlung aus dem Homeoffice wird ihrer besonderen Bedeutung als Grundlage der gerichtlichen Entscheidung nicht gerecht und widerspricht der Außendarstellung der Justiz und dem Ansehen der Gerichte als Institution. Im häuslichen Arbeitszimmer können Störungen die Verhandlung beeinträchtigen.“

Auch andere Länder zögern. Dem Vernehmen nach haben sie vor Augen, dass eine Hauskatze oder ein Kleinkind bei der Vernehmung oder Urteilsverkündung durchs Bild huscht und die Würde des Gerichts stört.

Wie sieht die Realität der Videoverhandlungen heute aus? Am Gerichtsstandort Nürnberg haben im Jahr 2023 insgesamt 841 Videoverhandlungen stattgefunden, davon 647 am Landgericht Nürnberg-Fürth, 105 am Oberlandesgericht Nürnberg und 89 am Amtsgericht Nürnberg, wie Tina Haase, Richterin am OLG Nürnberg, aufzählt.

Bei Zivilgerichten sei es bereits gängige Praxis, dass bei Verhandlungen nur der Einzelrichter oder die Richter-Spruchgruppe im Gerichtssaal säßen und über Medientechnik die Parteien und Anwälte aus den Kanzleiräumen „vollvirtuell“ zugeschaltet seien, sagt Haase. Sie loggten sich hierfür in den digitalen Raum ein. Die Zivil-Richter*innen seien also auch bei einer solchen Videoverhandlung im Gerichtsgebäude, in einem Sitzungssaal mit entsprechender technischer Ausstattung. In einzelnen Sälen seien teils mehrere Kameras und Monitore montiert. 

Vereinzelt legten Richter und Richterinnen Videoverhandlungen in das eigene Bürozimmer im Gerichtsgebäude. Das sei aber eher die Ausnahme und komme auch nur in Betracht, wenn am Zivilprozess nur Anwälte beteiligt seien und sich alle Anwälte aus ihren Kanzleiräumen zuschalten würden und keine sonstigen Prozessbeteiligten zu laden seien.

In einem solchen Fall werde während der Videoverhandlung ein Sitzungsaushang an der Bürotür befestigt, sodass die notwendige, gesetzlich vorgeschriebene Öffentlichkeit des Sitzungsraums gewahrt werde. „Das Büro wird auf diese Weise zum öffentlichen Sitzungssaal“, sagt Tina Haase. Auf absehbare Zeit wird das herrschaftliche Gerichtsgebäude nicht leer stehen oder als Museum enden, wie etwa der historische Saal 600, der tatsächlich seit März 2020 Museum ist. (Thomas Schuler)
 

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