Rund jeder dritte registrierte ukrainische Flüchtling in Deutschland ist seit Beginn des russischen Angriffskrieges in Bayern angekommen. Bislang seien bereits rund 20 000 Flüchtlinge im Freistaat angekommen, sagte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Dienstag in München unter Berufung auf eine Statistik mit Stand Montagabend. Zeitgleich seien es bundesweit mehr als 60 000 gewesen. Wegen der hohen Zahl an Flüchtlingen müssen die Kommunen sowohl ihre Kapazitäten zur Aufnahme der meist Frauen und Kinder sowie die Schulen zur Unterrichtung deutlich aufstocken.
Herrmann und auch Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betonten bei einem Besuch in einem Münchner Aufnahmelager erneut, dass die Zahl der Flüchtlinge unter dem Strich sogar noch deutlich höher sein könne, da etwa an der Grenze gar nicht alle Flüchtlinge erkannt worden seien. Angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine müsse man sich darauf einstellen, dass in den kommenden Tagen und Wochen noch viel mehr Menschen nach Deutschland und Bayern kommen werden.
Es sei zu befürchten, dass der Krieg "länger dauern werde", sagte Söder. Bayern helfe allen Menschen mit "offenem Herzen", vor allem die Kinder bräuchten Schutz, Sicherheit und Hoffnung.
100 000 Geflüchtete? Diese Schätzung ist kaum realistisch
Anfangs hatte die Staatsregierung geschätzt, dass 50 000 Ukrainer im Freistaat Schutz suchen würden. Die aktuellen Zahlen legen aber nahe, dass auch die korrigierte Schätzung von 100 000 Flüchtlingen kaum realistisch ist. Um eine weitere Ausbreitung von Corona in den Aufnahmezentren zu verhindern, setzt Bayern auf eingehende medizinische Untersuchungen bei der Ankunft, Impfungen und Tests.
Söder forderte daher vom Bund erneut eine bessere Koordinierung der Flüchtlingspolitik - und auch mehr Geld. Dies müsse ein zentrales Thema der Bund-Länder-Runde am 17. März sein. Der Bund müsse einen zentralen "Koordinierungsrat" einrichten. "Wir brauchen da klare Regeln, auch der Finanzierung", sagte Söder. Wie bei der Flüchtlingskrise 2015/16 brauche es Unterstützung des Bundes für die Kommunen - dies könnten die Länder nicht alleine leisten. In Bayern übernehme der Freistaat zunächst die Kosten der Kommunen.
Dagegen verlangten die Grünen zur besseren Verteilung der Flüchtlinge eine zentrale Koordinierungsstelle in Bayern. Die Kommunen müssten dringend finanziell, organisatorisch und personell vom Freistaat unterstützt werden, so Fraktionschefin Katharina Schulze.
Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt bis zu fünf Millionen Menschen aus der Ukraine flüchten könnten. Seit der russischen Invasion in die Ukraine haben laut Angaben der Vereinten Nationen bereits mehr als 2 Millionen Menschen das Land verlassen.
Engpässe an den Schulen sind schon absehbar
Nach Einschätzung von Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) müssen auch an den Schulen die Vorbereitungen aufstockt werden, um die geflüchtete Kinder und Jugendlichen aufnehmen zu können. "Ich bin der festen Überzeugung, dass wir zusätzliche Kapazitäten schaffen müssen", sagte Piazolo am Dienstag nach der Sitzung des Kabinetts in München. Es müssten vermutlich neue Klassen gebildet werden, und es seien wohl auch zusätzliche Lehrkräfte notwendig.
Die Gespräche dazu liefen bereits, sagte Piazolo. Man wolle etwa geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine zusätzlich einbinden, wo dies möglich sei. "Wir werden auch pensionierte Lehrkräfte durchaus animieren", sagte der Minister.
Derzeit sei das Verfahren, dass aus der Ukraine nach Deutschland kommende Kinder und Jugendliche einfach in ihrer zuständigen Sprengelschule aufgenommen werden können. Dann sei es wichtig, schnell die Deutschkenntnisse zu verbessern. Es sei sinnvoll, sich auf eine länger andauernde Situation einzustellen.
Die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen sei an den bayerischen Schulen und unter den Lehrkräften sehr groß. "Es gibt eine sehr, sehr große Solidaritätsbereitschaft, die spüre ich auch in den Schulen", sagte Piazolo. Die Frage sei aber, wie lange dies andauere. Das System sei auch bereits durch die Corona-Pandemie stark belastet. Neun Prozent der Lehrkräfte könnten derzeit nicht arbeiten.
Die für die Kindertagesstätten zuständige Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) sagte, die Staatsregierung stehe in engem Austausch mit den Kommunen, um die Aufnahme von Kindern in Kindertagesstätten zu regeln. Gerade in den Ballungszentren, wo derzeit die meisten Flüchtlinge ankommen, stünden freie Plätze nicht üppig zur Verfügung. Auch das Problem unbegleiteter Kinder könne noch wachsen.
Die Industrie- und Handelskammer München sorgte sich derweil besonders vor einem Embargo russischer Öl- und Gaslieferungen. Deutschland bräuchte 35 000 Windkraftanlagen oder 50 Atomkraftwerke, um allein die russischen Gasimporte zu ersetzen. Ein Lieferstopp "würde die bayerische Wirtschaft ins Mark treffen", sagte IHK-Chef Manfred Gößl am Dienstag. Preisexplosionen, Rationierungen und Stilllegungen von industriellen und gewerblichen Produktionen wären "dann unvermeidlich und für unabsehbare Zeit an der Tagesordnung".
(dpa)
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