Politik

Die Warteräume in den Jobcentern werden immer voller. (Foto: dpa/Jens Kalaene)

18.08.2023

Jobcenter statt Job

Seit es Bürgergeld gibt, ist die Zahl derer, die staatliche Unterstützung erhalten, gestiegen. Trotz hoher Arbeitslosigkeit

Knapp 470 000 Menschen in Bayern beziehen derzeit durch das Jobcenter Bürgergeld. Vor fünf Jahren, als man noch von Hartz IV sprach, erhielten erst 431 000 Männer und Frauen im Freistaat Regelleistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Die Zahl der Empfänger sank kontinuierlich bis Mai 2022. Seitdem steigt sie wieder an. Dabei stemmen fast 56 Prozent der aktuellen Bürgergeld-Empfänger nicht aus Deutschland. Anfang 2018 waren es nur 44,7 Prozent. Knapp 85 000 Bürgergeld-Bezieher*innen sind unter 30 Jahre alt.

Während im Moment Kräfte, die selbst Fachleute nicht genau fassen können, den Arbeitsmarkt leer fegen und Unternehmen in die Bredouille bringen, sind in Bayern also nahezu eine halbe Million Menschen ohne Job. 94 000 von ihnen stammen aus der Ukraine. Warum ist das so? Hier mögen die beruflichen Schwierigkeiten an mangelnden Deutschkenntnissen liegen. Aber wie kann es sein, dass jüngere Deutsche trotz eklatanter Personalengpässe nicht vom Jobcenter loskommen?

Liegt es daran, dass es bequemer ist, Bürgergeld zu beziehen als zu arbeiten? Harald Ebert, Leiter der Don Bosco-Berufsschule in Würzburg, hat das schon gehört. Ihm zufolge kann der flapsig vorgebrachte Ausspruch: „Dann halt Bürgergeld!“ als eine Art Missfallensäußerung benachteiligter junger Leute in Bezug auf ihre schlechten Arbeitsmarktperspektiven interpretiert werden. Der Sonderpädagoge, dessen Bildungseinrichtung von Schülern mit psychischen Erkrankungen, Teenagern mit Lernbehinderung, jungen Alleinerziehenden und Flüchtlingen besucht wird, sagt, dass benachteiligte junge Menschen während ihrer Schulkarriere sehr oft Scheitern erleben. „Lieber Bürgergeld!“ werde verständlich, hält man sich dieses wiederholte Scheitern am Übergang von Schule und Beruf vor Augen: „Die jungen Leute wollen nicht erneut als Verlierer vom Platz gehen.“

Viele gut qualifizierte junge Leute haben keine Lust, so wie ihre Eltern Tag für Tag müde nach Hause zu kommen

Ebert sagt: „Die Gesellschaft hat Geringqualifizierten nur wenig Anreize zu bieten.“ Junge Menschen, die aufgrund schwieriger Startbedingungen ins Leben nicht das mitbringen, was für gute Berufe erforderlich ist, mündeten oft in ein prekäres Arbeitsleben.

Viele gut qualifizierte junge Leute wiederum haben keine Lust, so wie ihre Eltern Tag für Tag müde nach Hause zu kommen. Laut Wirtschafts- und Sozialforscher Andreas Herteux aus Main-Spessart ist ihnen ein „für Arbeitgeber oft schwieriger Anspruch an die Work-Life-Balance“ zueigen.

Dass sich die Jobsuche trotz Fachkräftemangel sehr schwierig gestalten kann, weiß Leander Hock, Vorsitzender des Vereins „Gesellschaftliche Teilhabe für Alle“ (Gesta) in Aschaffenburg. Die von ihm verantwortete Organisation unterhält Werkstätten, in denen Erwerbslose abseits des allgemeinen Arbeitsmarktes einer Beschäftigung nachgehen können. „Sind Menschen lange arbeitslos, ist die Hürde, in unserer komplexen Arbeitswelt bestehen zu können, sehr hoch“, sagt Hock. 

Dass Nachfrage und Angebot zu hundert Prozent zusammenzubringen sind, sei ohnehin ein Irrtum, glaubt Gabriele Reglin, Geschäftsführerin des Augsburger Bildungsanbieters BIB. Sie weist darauf hin, dass bei Jugendlichen, deren letzte Schuljahre in die Corona-Krise fielen, „massive“ Lücken vorhanden seien. Eben daran liege es oft, dass sie keinen Ausbildungsplatz finden. Viele genügten einfach den Anforderungen der Betriebe nicht. 

Fakt ist: Tut jemand zu wenig, um Arbeit zu finden, muss er mit Sanktionen rechnen. Seit das Bürgergeld eingeführt wurde, spricht man von „Leistungsminderungen“. Hartz IV-Empfänger lagen in der Vergangenheit oft im Clinch mit ihrem Jobcenter, weil sie radikal sanktioniert wurden. 2019 forderte das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Neuregelung der Sanktionen. Dies ist mit Einführung des Bürgergelds erfolgt. Laut einer Statistik der bayerischen Arbeitsagentur sanken die Sanktionen seit Einführung des Bürgergelds drastisch. Im März 2007 gab es noch mehr als 12 300 Sanktionen. Im März 2023 wurden dagegen lediglich 658 Leistungsminderungen angeordnet. Der Anteil der Sanktionierten sank von 25,5 auf 7,8 Prozent.

Mit Einführung des Bürgergelds wollte die Ampelkoalition stärker auf „fördern“ statt auf „fordern“ setzen. Oft ist von „wertschätzende Zusammenarbeit“ mit Arbeitslosen die Rede. Ein weiteres Kernelement ist der „Kooperationsplan“. Seit Juli 2023 ersetzt er die Eingliederungsvereinbarung. Die höchstmögliche „Strafe“ für Pflichtverletzungen ist eine 30-prozentige Leistungskürzung des Regelsatzes. Der beträgt für Alleinstehende 502 Euro.

Neu ist auch, dass Langzeitarbeitslose bis zu drei Jahre lang eine Ausbildung oder Umschulung durchlaufen dürfen. Es gibt Weiterbildungsgeld, Weiterbildungsprämien und einen Bürgergeldbonus.

Die Kritiker*innen des Bürgergelds sehen sich jedenfalls in ihren Vorbehalten bestätigt. Thomas Huber, sozialpolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion, beklagt die hohe Zahl Arbeitsloser, während Firmen händeringend Personal suchen. Mit Blick auf die vielen Zugewanderten unter den Bürgergeld-Empfängern fordert er eine schnellere Vermittlung in den Arbeitsmarkt: „Arbeit ist der Schlüssel zu Integration!“ Das Verweigern zumutbarer Arbeit müsse auch in Zukunft Konsequenzen haben. Huber fordert, dass es einen deutlichen Abstand zwischen Arbeitsentgelt und Grundsicherung geben müsse: „Arbeit muss sich lohnen.“ Dass deutschlandweit mehr als eine halbe Million erwerbsfähiger Migrant*innen Bürgergeld beziehen, während überall Arbeitskräfte fehlen, nennt er einen „ein sozialpolitischen Irrweg“. (Pat Christ)

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