Politik

10.10.2019

Nutri-Score: Ist die Einführung einer Lebensmittelampel sinnvoll?

Foodwatch pocht schon lange auf die Einführung des Nutri-Scores. Er helfe, Fehlernährung zu bekämpfen, ist Luise Molling von der Verbraucherorganisation überzeugt. Die Ernährungswissenschaftlerin Eva-Maria Endres hält dagegen: Die Bewertungskriterien reichen dazu längst nicht aus

JA

Luise Molling, Verbraucherorganisation Foodwatch

Tiefkühlpizza gleich Tiefkühlpizza? Erdbeerjoghurt gleich Erdbeerjoghurt? Weit gefehlt. Auf den ersten Blick ähnliche Lebensmittel weisen tatsächlich oft große Unterschiede bei Nährwerten wie Zucker, Fett und Co. auf. Die Verbraucherinnen und Verbraucher können das im Supermarkt nicht auf einen Blick erkennen. Denn die Nährwertinformationen sind meist im Kleingedruckten auf der Rückseite der Verpackung versteckt. Zudem sind die Zahlen für Laien schwer zu interpretieren – wer weiß schon, was ein hoher Salzgehalt in der Suppe oder ein hoher Zuckergehalt im Müsliriegel ist? Und wer hat die Zeit, bei jeder Kaufentscheidung ausgiebig Nährwerttabellen zu studieren? Dies trägt mit dazu bei, dass Fehlernährung weit verbreitet und jeder zehnte Jugendliche und jeder vierte Erwachsene hierzulande fettleibig ist.

Ärzteverbände, Krankenkassen und Verbraucherverbände fordern daher schon lange eine vereinfachte Nährwertkennzeichnung in Ampelfarben. Mit dem Nutri-Score lassen sich verarbeitete Lebensmittel auf einen Blick miteinander vergleichen – was nachweislich zu einem gesünderen Einkaufsverhalten führt. Auch Dickmacher, die von den Herstellern als leichte Snacks vermarktet werden, entlarvt der Nutri-Score.

Ein weiterer positiver Effekt zeigt sich in Frankreich: Die Einführung des Nutri-Scores hat etliche Hersteller veranlasst, ihre Rezepturen zu verbessern, um eine bessere Bewertung zu erhalten.
Der Nutri-Score bietet Orientierung, führt zu gesünderen Kaufentscheidungen und zu besseren Rezepturen. Daher ist er ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Fehlernährung. Auf freiwilliger Basis wird er seine Wirkung jedoch nicht voll entfalten können – Ernährungsministerin Klöckner muss sich daher für eine verpflichtende Kennzeichnung in Europa stark machen. Darüber hinaus braucht es dringend weitere Maßnahmen: eine Limo-Steuer nach britischem Vorbild und eine Beschränkung der an Kinder gerichteten Werbung.

NEIN

Eva-Maria Endres, Ernährungswissenschaftlerin, Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur

Angesichts der großen Fülle an Lebensmitteln und kursierenden Ernährungsinformationen ist der Wunsch nach einem einfachen Orientierungssystem mehr als verständlich. Warum aber eignet sich hierfür der Nutri-Score nicht?

Der Gesundheitswert erschließt sich immer aus der gesamten Ernährung, nicht aus einzelnen Lebensmitteln. Mit dem Nutri-Score entsteht der Eindruck einer gesunden Ernährung, wenn ich jeden Tag zwei Kilogramm Weißbrot, fünf Packungen Erdbeerjoghurt und drei Liter Cola light zu mir nehme. Denn diese Lebensmittel sind positiv (grün) bewertet. Zudem sind die Bewertungskriterien bei Weitem nicht ausreichend, um Lebensmittel hinsichtlich ihrer Qualität überzeugend einzuschätzen. Nicht berücksichtigt werden wichtige Aspekte wie Vitamine und Mineralstoffe, der Vollkornanteil, Zusatzstoffe und vieles mehr.

Nach derzeitigem Stand werden unverarbeitete Lebensmittel wie frisches Gemüse, Getreide oder roher Fisch nicht gekennzeichnet. Verarbeitete Lebensmittel können also mit gutem Gewissen konsumiert werden, solange sie nur an den richtigen Stellschrauben optimiert wurden. Keine Frage, dass Industriegrößen wie Nestlé oder Danone den Nutri-Score befürworten, wenn Fertigprodukte wie Backofenpommes mit einem grünen A gelabelt werden und damit praktisch „genauso gesund“ sind wie frische Kartoffeln.

Die Ziele, die damit erreicht werden sollen, sind nicht klar. Denn für Veränderungen im Essverhalten spielt das Ernährungswissen eine untergeordnete Rolle. Systemische oder soziale Aspekte sind ausschlaggebend. Effektiver wäre etwa eine Verbesserung der Schulverpflegung. Alle Lebensmittel allein nach Gesundheitskriterien einzuteilen, reduziert Essen auf eine reine Funktion. Verbraucher sollten unterstützt werden, Lebensmittelqualität selbst einschätzen zu können. Sie müssen den Umgang mit Lebensmitteln erlernen und die Freude an der Esskultur und an der Sorge um sich entdecken. All diesen Zielen wirkt der Nutri-Score entgegen.

Kommentare (5)

  1. Michaela am 13.10.2019
    Experimentelle Studien zeigen, dass der Nutriscore oder andere direktive Nährwertkennzeichnungen nur einen geringen Einfluss darauf haben, als wie gesund ein Produkt vom Konsumenten eingeschätzt wird. In erster Linie führen sie dazu, dass die Industrie die Rezepturen ihrer Produkte so anpasst, dass diese eine bessere Beurteilung erhalten.
  2. Alma am 11.10.2019
    Es ist bedauerlich, dass sich Ernährungswissenschaftler, wie Frau Endres, nicht im Detail mit dem Nutri-Score System auseinandersetzen. Der Nutri-Score ist kein Allheilmittel aber zumindest ein erster, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierender Ansatz (siehe u.a. Bewertung des Max Rubner-Instituts https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Themen/Naehrwertkennzeichnung/190731_MRI-Bericht_zu_FoP-NWK-Modellen_final.pdf ), um Verbrauchern mehr und vor allem schnelle Orientierung beim Lebensmitteleinkauf zu geben. Mit der Kennzeichnung kann zwischen für die Ernährung eher günstigen und weniger günstigen Lebensmitteln abgewogen werden.

    Ein Vorteil des Nutri-Score ist doch genau, dass er positive Zutaten bzw. Inhaltsstoffe wie ballaststoffreiches Obst, Gemüse und Nüsse, den Ballaststoffgehalt selbst wie auch den Proteingehalt "belohnt" und andere, ungünstige Nährstoffe negativ bewertet. Also wird die Vollkorn-Variante des Toast-Brotes beim Nutri-Score wahrscheinlich besser abschneiden, als der klassische Buttertoast, der übrigens keine grüne Kennzeichnung (A oder B), wie Frau Endres behauptet, sondern ein gelbes C erhalten würde! Es ist doch zu begrüßen, wenn Verbraucher mit Hilfe des Nutri-Score zur Vollkornvariante greifen würden. Gleichzeitig schafft es im Wettbewerb Anreize für Lebensmittelhersteller, die Rezepturen ihrer Produkte in Bezug auf die ernährungsphysiologische Qualität anzupassen.

    Und liebe Frau Endres: Setzen Sie sich doch bitte einmal mit dem Thema "Backofen-Pommes" auseinander! Klassisch bestehen diese in der Regel aus genau zwei Zutaten: Kartoffeln + Sonnenblumenöl. Für die Zubereitung im Ofen, die hauptsächlich empfohlen wird, soll auch kein weiteres Fett oder Öl eingesetzt werden. Nur, weil die Kartoffel industriell gewaschen, geschält, geschnitten und kurz vorfrittiert wurde, heißt das nicht, dass sie schlechter oder ungesünder ist, als wenn ich das in meiner heimischen Küche mache! Also warum sollte dieses Produkt denn kein A beim Nutri-Score erhalten?

    Fakt ist: die Lebensrealitäten vieler Menschen haben sich grundlegend geändert. Neben voller Berufstätigkeit, bei Familien meist beider Elternteile, bleibt einfach weniger Zeit zum Kochen. Dass das dann noch jeden Tag frisch mit den Einkäufen vom Markt passieren soll, wäre zwar schön, bekommt aber niemand in seinem vollgepackten Alltag hin - und dass weniger zu Hause gekocht wird, zeigen ja bereits mehrere Studien. Ich zumindest schaffe das auf keinen Fall im Rahmen meiner 40 Stunden-Arbeitswoche und bin froh, dass ich mich bei entsprechenden Convenienceprodukten bedienen kann und auch mal abends schnell und einfach eine Erbsensuppe aus Tiefkühlerbsen und Tiefkühlfisch für meine Tochter kochen kann. Beides übrigens vollkommen naturbelassen und frisch eingefroren und auch in Bio-Qualität erhältlich, wenn man denn möchte!
  3. Luise Molling am 11.10.2019
    Frau Endres' Beitrag enthält mehrere falsche Behauptungen: Ein Erdbeerjoghurt ist keineswegs immer grün - das ist ja gerade die Stärke des Nutri-Score, dass ein ungezuckerter Erdbeerjoghurt ein hellgrünes B, ein gezuckerter und sehr fetthaltiger ein orangenes D bekommt (Beispiel: https://www.foodwatch.org/fileadmin/_processed_/e/1/csm_Bild_3_be27a67484.jpg). Auch sind Vitamine und Mineralstoffe sowie der Vollkorngehalt über die Miteinbeziehung des Obst- und Gemüsegehalts sowie des Ballaststoffgehalts in der Nutri-Score-Berechnung sehr wohl einbezogen. Frau Endres arbeitet für APEK Consult, deren Büroleiter unter anderem für den Süßwarenverband und den Lebensmittelverband tätig war laut Webseite (https://www.apek-consult.de/team/dr-daniel-kofahl/ ) - beide Verbände sind erklärte Gegner des Nutri-Score. Das ist keine unabhängige Wissenschaftlerin, das ist unseriöse Stimmungsmache.
  4. Helmut am 10.10.2019
    Diese Schlussfolgerung "Dies trägt mit dazu bei, dass Fehlernährung weit verbreitet und jeder zehnte Jugendliche und jeder vierte Erwachsene hierzulande fettleibig ist" ist meines Erachtens falsch, denn Fettleibigkeit ist das Ergebnis der gesamten Lebensstils, also gesamte Ernährungsweise und Bewegungsverhalten. Einzelne Lebensmittel mit den Ampelfarben zu kennzeichnen bringt nichts. Um Abzunehmen ist zudem immer die gesamte Kalorienbilanz zu betrachten, und die Energiedichte der täglichen Ernährung. Die Energiedichte eines Lebensmittels kann dann in grün, gelb und rot eingeteilt werden. Dies wäre weitaus sinnvoller als das jetzt geschaffene Ampelsystem.
  5. Uwe Knop am 10.10.2019
    Scorektiker - führt der Nutri-Score zur neuen Essangst?

    Die Einteilung in rote, gelbe und grüne Punkte unterliegt der reinen Willkür. Es gibt keine kausalevidenzbasierte wissenschaftliche Grundlage für die Punkteverteilung, geschweige sind davon klinische endpunktrelevante Effekte – weniger Schlaganfälle, Herzinfarkte, Krebs oder gar eine höhere Lebenserwartung – zu erwarten. Und nur darauf kommt es am Ende des Tages an - nicht auf ideologisch hoch stilisierte Surrogatparameter a la „Der Verzehr fetter Wurst wurde vermutlich (!) durch die Ampel um 17 % gesenkt“. Die Farbpunkte gaukeln „gut“ und „böse“ vor, dass es einfach nicht gibt. Cola und Orangensaft bekämen beim Zucker einen roten Gefahrenpunkt, wobei der für 100 Prozent natürlichen Organgensaft noch roter wäre, da er mehr Zucker enthält. Für die Pointierung gilt klar: Willkür dominiert Wissenschaft.

    https://www.anad.de/themen/testseite-01.php
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.