Wer in diesen Tagen in die Kneipen von München bis Hamburg blickt, könnte leicht denken: War da einmal etwas? Trotz zuletzt deutlich gestiegener Corona-Zahlen sitzen dort seit Wochen wieder viele Menschen mitunter dicht gedrängt an den Tischen. Selbst in schlecht durchgelüfteten Boazn im Freistaat dürfen Erwachsene ohne Masken auf ihren Plätzen verweilen. Und Tausende Menschen reisen in Risikoländer. In den Firmen darf man ohne Mund-Nasen-Schutz seiner Arbeit nachgehen.
Anders sieht es bei Kindern und Jugendlichen aus. Bei ihnen zeigt sich der Staat besonders streng. An Bayerns Schulen herrscht außerhalb des Klassenzimmers Maskenpflicht, und in Nordrhein-Westfalen muss der Großteil der Schüler*innen den unbequemen Mund-Nasen-Schutz sogar stundenlang im Unterricht tragen.
Doch auch im Freistaat agierte die Politik zuletzt bei Jung und Alt in Sachen Corona-Bekämpfung mit zweierlei Maß: Als in Biergärten längst wieder die Krüge krachten, hatten die Jugendzentren, Jugendgruppen und Vereine noch immer dicht. Selbst Freiluftangebote blieben Kindern und Jugendlichen meist verwehrt. Erst im Juni öffneten viele Jugendbegegnungsstätten wieder, teils jedoch mit erheblichen Einschränkungen. Manche Jugendgruppen haben ihre Treffen sogar bis heute stark eingeschränkt.
Julia Mokry, Landesseelsorgerin der Katholischen Landjugendbewegung Bayern (KLJB), kritisiert, dass die Jugendarbeit im Freistaat viel zu spät wieder hochgefahren worden sei. Die Staatsregierung habe hier wochenlang abgeblockt. Bayerns Grünen-Vorsitzende Eva Lettenbauer moniert ebenfalls: „Obwohl es ein tolles Konzept des Bayerischen Jugendrings zur Wiedereröffnung der Jugendarbeit gab, wurde dieses durch die Söder-Regierung wochenlang nicht genehmigt.“ Matthias Enghuber, der jugendpolitische Sprecher der CSU-Fraktion, weist den Vorwurf zurück. Zwar sei wegen der gebotenen Eile bei den Corona-Maßnahmen für die Jugendlichen nicht „immer alles optimal gelaufen“. Aber die Staatsregierung habe stets „schnell nachjustiert“.
Warum Kinder strenger behandeln als Erwachsene?
Für KLJB-Frau Mokry ist jedenfalls klar: „Kinder und Jugendliche sind die großen Verlierer der Krise.“ So sei es etwa für die 14- bis 18-Jährigen besonders schwierig gewesen, auf die gewohnten Treffen und den Austausch mit Gleichaltrigen zu verzichten. Doch ihre Interessen hätten bei den Entscheidungen der Politik bislang „im Hintergrund gestanden“. Mokry fordert, dass Jugendliche nicht schlechter behandelt werden sollten als Erwachsene. Und auch für die jugendpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Julika Sandt, gilt mit Blick auf die Maskenpflicht im Unterricht in NRW: „In Schulen sollten keine strengeren Maßnahmen gelten als in Kneipen.“
Heranwachsende treffen auch die Schließung von Clubs und Discos sowie die Einschränkungen bei Privatpartys überproportional. Viele weichen deshalb in Parks oder in die Innenstädte aus. Regelmäßig kommt es zu Konflikten mit der restlichen Bevölkerung. In Stuttgart und Frankfurt kam es zu Krawallen frustrierter Jugendlicher. Die 27-jährige Lettenbauer fordert, mehr Flächen im Freien zu schaffen, auf denen die jungen Menschen legal feiern oder sich einfach nur unterhalten könnten. Die Landtagsabgeordnete, die auch jugendpolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist, zeigt sich besorgt, dass viele junge Menschen auch wirtschaftlich überproportional betroffen seien.
Fakt ist: Sparen Firmen, lassen sie in der Regel befristete Verträge auslaufen, was oft Berufseinsteiger betrifft. Und manche Unternehmen könnten, so die Befürchtung von Wirtschaftsexperten, nun weniger ausbilden. Vielen Studenten brachen zuletzt die Nebenjobs weg, etwa in der Gastro. „Es ist ein Unding, dass Studenten anders als viele andere nur Kredite vom Staat bekommen“, sagt Lettenbauer. Manche drohten sich so dauerhaft zu verschulden. Bund und Länder hatten die Studierenden lange Zeit komplett vergessen; anders als etwa Selbstständige oder Familien bekommen sie beinahe ausnahmslos nur Hilfen, die sie später zurückzahlen müssen.
Manche Jugendverbände, Vereine und Jugendzentren haben derweil Angst vor dem Kahlschlag. Denn eigentlich gibt es im Freistaat vielerorts ein breites Angebot in der Jugendarbeit. Doch Praktiker fürchten, dass die Kämmerer in den Kommunen angesichts wegbrechender Steuereinnahmen nun den Rotstift ausgerechnet dort ansetzen könnten. KLJB-Funktionärin Mokry sagt: „Die Jungen haben keine Lobby.“
FDP-Frau Sandt moniert zudem, dass Jugendliche von der Wahlurne ferngehalten würden. „Kinder und Jugendliche wurden in den bisherigen Entscheidungsprozessen nicht als Personen mit ebenbürtigen Rechten gesehen“, kritisierte auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin jüngst.
Und Sabine Andresen, Familienforscherin an der Goethe-Universität Frankfurt, konstatierte im Mai: „In der politischen Diskussion um Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus und deren Angemessenheit tauchen die Interessen von Jugendlichen überhaupt nicht auf.“ Der Mangel an Beteiligung junger Menschen habe sich „in der Corona-Krise noch einmal verschärft“.
Liberale und Grüne fordern deshalb eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre – zumindest für die Landtagswahlen. „Die große Hilfsbereitschaft und Reife junger Menschen während der Corona-Krise hat gezeigt, dass sie reif sind zu wählen“, sagt Sandt.
(Tobias Lill)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!