Politik

In Bayern können Bürger in schweren Verdachtsfällen unbegrenzt weggesperrt werden – das kritisiert nicht nur der Bayerische Richterverein. (Foto: dpa)

17.11.2017

"Präventivhaft ist ein massiver Grundrechtseingriff"

Andrea Titz, Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins, über Nebeneinkünfte, Reichsbürger, politisch engagierte Richter und das Verbot religiöser Kleidung im Gericht

Als Pressesprecherin des Oberlandesgerichts München wurde Andrea Titz durch den NSU-Prozess und die Urteilsverkündung gegen Uli Hoeneß bundesweit bekannt. Heute kämpft sie als Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins für mehr Personal. „In Bayern“, sagt sie, „fehlen mehrere hundert Richter und Staatsanwälte.“ BSZ:Frau Titz, bei schweren Verdachtsfällen können Bürger in Bayern unbegrenzt weggesperrt werden. Übersteigt das die richterliche Verantwortung?
Andrea Titz: Wir scheuen uns sicher nicht, freiheitsentziehende Maßnahmen auszusprechen. Gleichwohl ist es schwer, die „drohende Gefahr“ perspektivisch zu bewerten. Wenn jemand in Gewahrsam genommen wird, muss der Richter alle drei Monate überprüfen, ob eine Gefahr von ihm ausgeht. Wie soll ein Gefährder plausibel machen, dass sich seine Einstellung wirklich geändert hat? Hier geht es um Haft oder Freiheit. Das ist ein massiver Grundrechtseingriff, der nicht anhand so unsicherer Kriterien für eine so lange Zeit angeordnet werden kann.

BSZ: Die Bundesanwaltschaft klagt über die vielen Terrorverfahren. Ist das auch in Bayern ein Problem?
Titz: Ja, irgendwo muss der Generalbundesanwalt seine Anklage schließlich erheben. Am Münchner Oberlandesgericht liefen und laufen viele Verfahren wegen terroristischer Straftaten und Mitgliedschaften in terroristischen Vereinigungen. Diese sind immer sehr komplex. Durch eine Gesetzesänderung Anfang 2017 können mittlerweile auch die Generalstaatsanwaltschaften in den Ländern wegen bestimmter terroristischer Straftaten selbst ermitteln und Anklagen zu den Oberlandesgerichten erheben. Auch da fällt mehr Arbeit an. BSZ: Die Zahl der Asylverfahren hat sich seit 2015 vervierfacht. Manche Experten fordern, die Rechtsmittel zu reduzieren, damit weniger Entscheidungen angefochten werden.
Titz: Dieses Thema ist viel zu komplex, um einen Schnellschuss zu wagen. Jetzt irgendwo im System an einer Stellschraube zu drehen, ist nicht des Rätsels Lösung, sondern verfehlt und kurzsichtig. BSZ: Warum fühlt sich die Justiz zunehmend überarbeitet, obwohl die zahlenmäßige Belastung der Gerichte laut Kriminalstatistik in den letzten Jahren eher abgenommen hat?
Titz: Justiz ist nicht nur Strafrecht. Es gibt noch viele weitere Rechtsbereiche, die in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen werden, aber nicht minder wichtig sind. Die Belastungssituation ist nicht nur auf einen Bereich zu konzentrieren. Um den Personalbedarf objektiv zu messen, wurde von den Ministerien ein Messsystem eingeführt. Dieses ergibt auch für Bayern Quartal für Quartal einen nicht unerheblichen Fehlbestand von mehreren hundert Richtern und Staatsanwälten. BSZ: Ein weiteres Problem sind das Darknet, Fakeshops und Hackerangriffe. Nur ein Bruchteil der Täter wird verurteilt. Woran liegt’s?
Titz: Diese neue Qualität von Kriminalität stellt die Justiz vor neue Herausforderungen. Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen mit Sachkunde und die entsprechende Sachausstattung. Mit der Zentralstelle Cybercrime haben wir jetzt eine Ermittlungsbehörde mit hoher fachlicher Expertise. Trotz der jüngsten Personalaufstockung gibt es aber noch erheblichen Bedarf.

"Der Personalmangel in der Justiz wurde lange nicht ernstgenommen"

BSZ: Warum werden Ihre Rufe nach mehr Personal nicht erhört?
Titz: Wir stoßen aktuell nicht auf taube Ohren. Das Problem ist erkannt worden – in den letzten Doppelhaushalten ist es zu einer erheblichen Stellenmehrung gekommen. Auch in der Flüchtlingskrise wurde schnell reagiert. Aber das kann die Versäumnisse der vergangen Jahre, vor allem den strikten Sparkurs Anfang der 2000er-Jahre, nicht aufwiegen. Dadurch, dass die Justiz trotz der Überlastung funktioniert, wurde das Problem lange nicht ernstgenommen. BSZ: In Sachsen war ein Richter AfD-Mitglied, in Bayern arbeitete 2014 sogar ein rechtsextremer Richter. Wie politisiert ist die Justiz?
Titz: Die Väter des Grundgesetzes sahen ausdrücklich politisch engagierte Richterinnen und Richter vor – solange dies das Vertrauen in der Bevölkerung und die Unvoreingenommenheit nicht gefährdet. Die überwiegende Mehrheit ist aber nicht in Parteien engagiert. Und wenn, müssen diese natürlich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Daher habe ich auch keine Vorbehalte gegen die Überprüfung von Kolleginnen und Kollegen durch den Verfassungsschutz. Es steht immerhin das Vertrauen gegenüber der dritten Gewalt auf dem Spiel. BSZ: Bayern will Richtern und Staatsanwälten religiös motivierte Kleidung verbieten, also Kopftücher und Kreuze. Eine gute Idee?
Titz: Wir begrüßen das Vorhaben. Auch hier geht es um den äußeren Anschein der Unvoreingenommenheit. Die Regelung gilt nur bei Amtshandlungen mit Außenwirkungen. Was Richter und Staatsanwälte zu Hause oder im Büro tragen, bleibt ihnen überlassen. Und wenn es eine solche Regelung gibt, darf diese natürlich nicht nur auf eine Religion begrenzt werden. BSZ: Letztes Jahr störten Reichsbürger in Bayern eine Verhandlung und stahlen sogar Gerichtsakten. War die Justiz nicht sensibilisiert genug?
Titz: Die Probleme mit Reichsbürgern wurden lange Zeit nicht ernstgenommen, weil es keine Vorkommnisse gab. Inzwischen ist das Bewusstsein in den Gerichtssälen angekommen, und es existieren konkrete Strategien. Aber auch hier gilt: Man kann nur dann vorbeugen, wenn es vorher Anhaltspunkte dafür gibt, das die Leute aus dem Dunstkreis von Rechtsverweigerern stammen. BSZ: In Bayern gehen vor allem Richter an Amtsgerichten einem Nebenjob nach. Haben sie zu wenig zu tun?
Titz: Nebenjob hört sich an, als würden Richter als Tankwart arbeiten. Nebenerwerb bedeutet, dass sie an einem Kommentar mitschreiben oder einen Vortrag halten. Das ist notwendig und sogar erwünscht. Ein Problem bestünde, wenn sie zum Beispiel ein Wirtschaftsunternehmen vor einem drohenden Rechtsstreit beraten. Die Richter haben aber das nötige Problembewusstsein dafür. BSZ: Nebentätigkeiten dienen also nicht dazu, den Verdienst aufzubessern?
Titz: Nein, zum Anhäufen von Reichtümern taugt der Nebenerwerb nicht. Richter mit hohen Nebeneinkünften sind die absolute Ausnahme. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Oftmals ist der eigene Vorbereitungsaufwand weit höher als das, was man dafür einnimmt. (Interview: David Lohmann)

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