Politik

Die Altersarmut in Deutschland steigt. (Foto: dpa)

15.12.2023

„Renten wichtiger als Mohrenköpfe“

Der designierte bayerische Chef der Wagenknecht-Partei, Klaus Ernst, will gezielt um AfD-Wähler*innen buhlen

Für Klaus Ernst ist dieser Abend ein Heimspiel. Im Genossenschaftssaal des Münchner Domagkparks kokettiert der frühere Linken-Chef eingangs damit, dass er einst in München eine Lehre als Elektromechaniker machte und dann Betriebsrat wurde. Nicht nur bei den vielen Gewerkschaftern im Publikum kommt das an.

Knapp 100 Menschen sind gekommen. Kein Wunder: Ernst und andere Fans von Talkshow-Ikone Sahra Wagenknecht wollen ihre Pläne für einen bayerischen Landesverband der künftigen Wagenknecht-Partei vorstellen.

Wohl keine Partei hat in der Geschichte der Bundesrepublik bereits vor ihrer Gründung so oft die Schlagzeilen gefüllt. Und klar ist: Klaus Ernst wird, wenn die Partei am 8. Januar tatsächlich offiziell gegründet wird, eine maßgeblichen Rolle spielen.

Wagenknecht gab bereits bekannt, dass Ernst in der Gruppe von zehn Wagenknecht-Abgeordneten im Bundestag ihr Stellvertreter wird. Der frühere IG-Metall-Funktionär gilt zudem als designierter Kandidat für den Posten des Landeschefs.

Für ihn spricht auch, dass er beim Aufbau der WASG und bei der Fusion zur Linken Erfahrungen mit den Tücken von Parteigründungen gesammelt hat. Es gebe Leute, die eine Partei für ihre Ziele übernehmen wollten, sagt Ernst. „Wir werden deshalb zu Beginn genau darauf achten, wen wir aufnehmen“, sagt der 69-Jährige.

Im Publikum sind vor allem Menschen, die mit der Politik der vergangenen Jahre extrem unzufrieden sind: Ernst versucht, sie alle für sich zu gewinnen – auch die Kritiker*innen des Corona-Kurses, von denen manche längst zur AfD übergeschwenkt seien. „Der Meinungskorridor wird bei uns so eng, dass du dir schon überlegen musst, mit wem du beim Pinkeln stehst“, sagt Ernst. Heftig kritisiert er frühere Impfpflichtpläne.

Über AfD-Anhänger*innen sagt er, viele von ihnen seien nicht rechtsradikal. Seiner alten Partei wirft der Ex-Linke vor, diese sei zuletzt „nur mehr auf Minderheitenthemen eingegangen“. Unter tosendem Beifall sagt er: „Wenn die Umbenennung der Mohrenköpfe urplötzlich wichtiger wird als die Höhe der Renten, dann hat der Rentner damit ein Problem.“

Zugewanderte als Verlierer der neuen Migrationswelle

Die Sozialpolitik sei „ein Schwerpunkt der Partei“. Renten und Mindestlöhne müssten steigen. „Es gibt keinen Grund dafür, warum der Österreicher 900 Euro mehr Rente bekommt als bei uns.“

Wie auch Wagenknecht fordert er einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Dies werde nur unter Gebietsabtretungen möglich sein, räumt er ein. Ernst will die deutschen Waffenlieferungen nach Kiew beenden. Und Deutschland solle wieder russisches Gas und Öl kaufen.

„Man sollte keine Sanktionen machen, die einen selbst treffen“, sagt der frühere Vorsitzende des Energieausschusses des Bundestags. Viele energieintensive Unternehmen wanderten längst in die USA ab. Diese seien „der große Gewinner des Krieges“. Soziales, Meinungsfreiheit, „Friedenspolitik“ sowie Energie und Wirtschaft: Das sind laut Ernst die großen Themen der Wagenkecht-Partei.

An diesem Abend ist eine Vielzahl von Ernsts Unterstützern auf dem Podium: Gewerkschafter und mehrere Mitglieder der außerparlamentarischen Bewegung „Aufstehen“, die 2018 von Wagenknecht ins Leben gerufen wurde – letztlich jedoch ein Rohrkrepierer wurde. Der bayerische Aufstehen-Vorsitzende Hans-Christian Lange spricht vor einer riesigen Leinwand, die ein Foto von Sahra Wagenknecht zeigt. Die Grünen und weite Teile der SPD sind für ihn eine „Klasse der Selbstgerechten“. Sie zerstörten „den sozialen Frieden“. Sie würden „riesige Projekte versprechen, die dann die einfachen Leute bezahlen sollen“.

Unter den Wagenknecht-Sympathisanten, die an diesem Abend gekommen sind, sind auch diverse Mitglieder der IG Metall. Harald Flassbeck, früherer Bevollmächtigter der IG Metall München, betont in seiner Rede auf dem Podium den Wert des deutschen Sozialversicherungssystems. Diese sei „das Kapital derjenigen Menschen, die kein Kapital besitzen.“ Dieses müsse für die Arbeitnehmer verteidigt werden. Die Menschen zahlten ein Leben lang ein, „damit sie bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter versorgt sind. Sie müssten sich auf den Staat verlassen können. Wagenknecht habe recht, dass es dafür einen funktionierenden Nationalstaat bedürfe. Dies sei keine chauvinistische Denkweise.

Neben enttäuschten AfD-Wählern will die Wagenknecht-Partei in Bayern auch gezielt Migrant*innen ansprechen. „Wir sollten alle, die Migrationshintergrund haben und seit Jahren in Deutschland arbeiten, Steuern zahlen und irgendwie versuchen, über die Runden zu kommen, ansprechen“, sagt Lange. Viele dieser Menschen hätten Ängste, weil sich „die Zuwanderung überschlage“.

Auch der letzte Redner, Daniel Abdelati, der als Facharbeiter in der Autobranche arbeitet, hat beobachtet, dass es unter Arbeitern im Autobau „einen Rechtsruck gibt“. Der 38-Jährige, dessen Vater 1978 aus Ägypten nach Deutschland kam, sagt unter Applaus: „Viele Menschen mit Migrationshintergrund sind gegen unkontrollierte Zuwanderung.“ Sie fürchteten Lohndumping, höhere Sozialkosten und eine Zunahme des sozialen Unfriedens. 

Wagenknecht wird in Bayern auch von Murat Yilmaz unterstützt: Er machte als der „Betriebsrats-Rebell bei BMW“ Schlagzeilen. Der frühere Chef einer kleinen Bandarbeiter- und Leiharbeitergewerkschaft sitzt im Publikum und sagt: „Geringverdiener oder die migrantische Unterschicht sind doch die großen Verlierer der heutigen Politik.“

Yilmaz kritisiert die Flüchtlingspolitik scharf. Wenn mehr als zwei Millionen Schutzsuchende in weniger als einem Jahrzehnt nach Deutschland kämen, würde dies vor allem für Zugewanderte, die schon lange hier leben, massive Konkurrenz um knappe Ressourcen bedeuten. Bei Wohnraum oder Kita-Plätzen etwa. „Viele Migranten, die schon lange da sind, wie der albanische Altenpfleger oder die türkische Reinigungskraft, sind die großen Verlierer der Flüchtlingspolitik“, sagt auch Lange. Er kündigt an: „Wir werden künftige Wahlkämpfe auch stark auf Menschen mit Migrationshintergrund ausrichten.“ (Tobias Lill)

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