Politik

Auf die Essensausgabe der Tafeln sind im Zuge der Corona-Krise weit mehr Menschen angewiesen als zuvor. (Foto: dpa/Andreas Arnold)

12.06.2020

Sparen bei den Ärmsten

Fachleute fürchten sozialen Kahlschlag nach der Corona-Krise

Tafeln machen die bestehende Armut sichtbar, sagte deren Bundesvorsitzender Jochen Brühl einmal. Das zeigt sich derzeit in vielen der wiedereröffneten bayerischen Essensausgaben. Im eigentlich wohlhabenden Neusäß bei Augsburg etwa nahm die Zahl der Haushalte, die nur mithilfe gespendeter Nahrungsmittel über die Runden kommen, im Zuge der Corona-Krise um gut 40 Prozent zu. Aktuell versorge man in der 21 000-Einwohner-Gemeinde 250 Bedürftige, sagt Sabine Zimmermann, Leiterin der örtlichen Tafel.

„Neben unseren Stammkunden wie armen Rentnern und Alleinerziehenden kamen zuletzt auch Menschen aus unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten zu uns“, so Zimmermann: etwa Freiberufler, deren Aufträge wegbrechen und die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Und auch immer mehr Familien stehen an. In München ist die Schlange vor der Tafel an der Großmarkthalle ebenfalls gewachsen – auf mehrere Hundert Meter.

Auch anderswo steigt die Armut an. 1,4 Millionen Menschen waren bayernweit zuletzt in Kurzarbeit, die Zahl der Arbeitslosen kletterte im Mai auf 290 580 – das sind 44,4 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Die Arbeitslosenquote stieg mit 3,8 Prozent auf den höchsten Wert für einen Mai seit zehn Jahren.

„Viele Geringverdiener verloren ihre Jobs“, so Kerstin Celina, sozialpolitische Sprecherin der Landtags-Grünen. Doch prekär Beschäftigte wie Bedienungen oder Küchenhilfen hätten kaum Gelegenheit gehabt, Rücklagen zu bilden. „Die Corona-Krise trifft Arme besonders hart“, sagt auch Thomas Beyer, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Bayern. Er verweist auf die massiv gestiegenen Lebensmittelpreise. Um rund zehn Prozent legten diese im April im Vergleich zum Vorjahresmonat zu – der Gemüsepreis stieg sogar um mehr als ein Viertel.

Der Sozialwohnungsbau wird leiden, weil dafür kein Geld mehr da ist

Doch nicht nur Arbeitslose geraten zunehmend unter Druck. Die auf Städte und Landkreise zurollende Sparwelle dürfte Ärmere und ohnehin schon Benachteiligte, die besonders auf die kommunale Daseinsvorsorge angewiesen sind, überproportional treffen. Oft sei das Erste, wo gekürzt werde, der soziale Bereich, warnt Beyer. Beim Jugendzentrum oder dem Alten- und Servicezentrum werde mancher Kämmerer rasch den Rotstift ansetzen. Celina ergänzt: „Und wenn die Landkreise weiter Busverbindungen auf dem Land streichen, trifft dies natürlich diejenigen, die sich kein Auto leisten können, besonders massiv.“ Auch soziale Hilfsangebote wie Schuldnerberatung, Flüchtlingsintegration oder Projekte der Behindertenhilfe hängen am finanziellen Tropf der aufgrund einbrechender Steuereinnahmen und wachsender Hartz-IV-Kosten immer klammeren Kommunen.

„Die Kernfrage wird in Zukunft sein, was man sich leisten will und was man sich leisten kann“, prophezeite Bayerns Landkreistagspräsident Christian Bernreiter (CSU) Ende Mai. Einen Vorgeschmack auf den sozialen Kahlschlag, der schon bald vielerorts drohen könnte, gab eine Vielzahl von Städten und Landkreisen zuletzt in Sachen Schulbegleitung – in den vergangenen Wochen wurden die Kosten für Inklusionshelfer*innen zusammengestrichen.

Und das könnte erst der Anfang sein. In München will die Stadt künftig seltener von ihrem Vorkaufsrecht für bestimmte Wohnungen Gebrauch machen – Mieterhöhungen für Ärmere und Durchschnittsverdiener dürften die Folge sein. Eine sozialtherapeutische Einrichtung musste in der Folge bereits weichen. Andernorts könnte das zuletzt zaghaft aufblühende Pflänzchen des sozialen Wohnungsbaus jäh gekillt werden.

Kliniken werden von der Schließung bedroht sein

Klar ist aus Sicht von Sozialpolitikern: Die vom Bund angekündigten Ausgleichszahlungen für Teile der wegbrechenden Steuereinnahmen und die steigenden Hartz-IV-Kosten werden nicht reichen, um Einsparungen in der Daseinsvorsorge zu verhindern. Celina befürchtet massive Einsparungen bei den kommunalen Kliniken. Viele könnten von der Schließung bedroht sein. Die Frage ist: Hängt eine gute medizinische Versorgung bald noch mehr vom Wohnort ab als bisher schon?

Auch in den Schulen ging die soziale Schere in den schulfreien Wochen weiter auseinander. „Während viele Akademikerfamilien trotz Homeoffice in der Lage sind, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen und diese zu motivieren, können viele Mütter und Väter aus prekären Verhältnissen das nicht“, klagt die Bildungsgewerkschaft GEW.

Immerhin hat der Freistaat bislang darauf verzichtet, die Milliardenkosten der Folgen der Corona-Pandemie bei den Schwächsten einzusparen. Auch in der CSU hat man nicht vergessen, wie der unsoziale Sparkurs der Stoiber-Administration einst dazu beitrug, dass die Christsozialen ihre absolute Mehrheit verloren. Damals war sogar das Blindengeld gekürzt worden. Entscheidend, um eine weitere soziale Schieflage zu verhindern, wird sein, ob der Freistaat klammen Kommunen hilft. „Es muss einen finanziellen Ausgleich geben“, fordert Beyer. (Tobias Lill)

Kommentare (2)

  1. Zitrone am 12.06.2020
    Wie kann das sein in einem der.reichsten Länder der Welt?
    Es wird als Erfolg angesehen, daß die Vermögensungleichheit seit ein paar Jahren nicht zugenommen hat. Statt nach der Verringerung zu streben. Was spricht gegen eine Anhebung der Steuer auf Kapital Einkünfte auf den persönlichen Steuersatz? Stattdessen Forderungen von CSU und CDU nach Förderung der Automafia, die Kunden und Staat seit Jahren betrogen hat. Keine regierende. Partei hat mehr das Recht, sich ein soziales Mäntelchen um zu hängen. Da nützen auch die Milliarden teuren Wahlgeschenke von Herrn Söder nichts.
  2. Zitrone am 12.06.2020
    Wie
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.