Tafeln machen die bestehende Armut sichtbar, sagte deren Bundesvorsitzender Jochen Brühl einmal. Das zeigt sich derzeit in vielen der wiedereröffneten bayerischen Essensausgaben. Im eigentlich wohlhabenden Neusäß bei Augsburg etwa nahm die Zahl der Haushalte, die nur mithilfe gespendeter Nahrungsmittel über die Runden kommen, im Zuge der Corona-Krise um gut 40 Prozent zu. Aktuell versorge man in der 21 000-Einwohner-Gemeinde 250 Bedürftige, sagt Sabine Zimmermann, Leiterin der örtlichen Tafel.
„Neben unseren Stammkunden wie armen Rentnern und Alleinerziehenden kamen zuletzt auch Menschen aus unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten zu uns“, so Zimmermann: etwa Freiberufler, deren Aufträge wegbrechen und die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Und auch immer mehr Familien stehen an. In München ist die Schlange vor der Tafel an der Großmarkthalle ebenfalls gewachsen – auf mehrere Hundert Meter.
Auch anderswo steigt die Armut an. 1,4 Millionen Menschen waren bayernweit zuletzt in Kurzarbeit, die Zahl der Arbeitslosen kletterte im Mai auf 290 580 – das sind 44,4 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Die Arbeitslosenquote stieg mit 3,8 Prozent auf den höchsten Wert für einen Mai seit zehn Jahren.
„Viele Geringverdiener verloren ihre Jobs“, so Kerstin Celina, sozialpolitische Sprecherin der Landtags-Grünen. Doch prekär Beschäftigte wie Bedienungen oder Küchenhilfen hätten kaum Gelegenheit gehabt, Rücklagen zu bilden. „Die Corona-Krise trifft Arme besonders hart“, sagt auch Thomas Beyer, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Bayern. Er verweist auf die massiv gestiegenen Lebensmittelpreise. Um rund zehn Prozent legten diese im April im Vergleich zum Vorjahresmonat zu – der Gemüsepreis stieg sogar um mehr als ein Viertel.
Der Sozialwohnungsbau wird leiden, weil dafür kein Geld mehr da ist
Doch nicht nur Arbeitslose geraten zunehmend unter Druck. Die auf Städte und Landkreise zurollende Sparwelle dürfte Ärmere und ohnehin schon Benachteiligte, die besonders auf die kommunale Daseinsvorsorge angewiesen sind, überproportional treffen. Oft sei das Erste, wo gekürzt werde, der soziale Bereich, warnt Beyer. Beim Jugendzentrum oder dem Alten- und Servicezentrum werde mancher Kämmerer rasch den Rotstift ansetzen. Celina ergänzt: „Und wenn die Landkreise weiter Busverbindungen auf dem Land streichen, trifft dies natürlich diejenigen, die sich kein Auto leisten können, besonders massiv.“ Auch soziale Hilfsangebote wie Schuldnerberatung, Flüchtlingsintegration oder Projekte der Behindertenhilfe hängen am finanziellen Tropf der aufgrund einbrechender Steuereinnahmen und wachsender Hartz-IV-Kosten immer klammeren Kommunen.
„Die Kernfrage wird in Zukunft sein, was man sich leisten will und was man sich leisten kann“, prophezeite Bayerns Landkreistagspräsident Christian Bernreiter (CSU) Ende Mai. Einen Vorgeschmack auf den sozialen Kahlschlag, der schon bald vielerorts drohen könnte, gab eine Vielzahl von Städten und Landkreisen zuletzt in Sachen Schulbegleitung – in den vergangenen Wochen wurden die Kosten für Inklusionshelfer*innen zusammengestrichen.
Und das könnte erst der Anfang sein. In München will die Stadt künftig seltener von ihrem Vorkaufsrecht für bestimmte Wohnungen Gebrauch machen – Mieterhöhungen für Ärmere und Durchschnittsverdiener dürften die Folge sein. Eine sozialtherapeutische Einrichtung musste in der Folge bereits weichen. Andernorts könnte das zuletzt zaghaft aufblühende Pflänzchen des sozialen Wohnungsbaus jäh gekillt werden.
Kliniken werden von der Schließung bedroht sein
Klar ist aus Sicht von Sozialpolitikern: Die vom Bund angekündigten Ausgleichszahlungen für Teile der wegbrechenden Steuereinnahmen und die steigenden Hartz-IV-Kosten werden nicht reichen, um Einsparungen in der Daseinsvorsorge zu verhindern. Celina befürchtet massive Einsparungen bei den kommunalen Kliniken. Viele könnten von der Schließung bedroht sein. Die Frage ist: Hängt eine gute medizinische Versorgung bald noch mehr vom Wohnort ab als bisher schon?
Auch in den Schulen ging die soziale Schere in den schulfreien Wochen weiter auseinander. „Während viele Akademikerfamilien trotz Homeoffice in der Lage sind, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen und diese zu motivieren, können viele Mütter und Väter aus prekären Verhältnissen das nicht“, klagt die Bildungsgewerkschaft GEW.
Immerhin hat der Freistaat bislang darauf verzichtet, die Milliardenkosten der Folgen der Corona-Pandemie bei den Schwächsten einzusparen. Auch in der CSU hat man nicht vergessen, wie der unsoziale Sparkurs der Stoiber-Administration einst dazu beitrug, dass die Christsozialen ihre absolute Mehrheit verloren. Damals war sogar das Blindengeld gekürzt worden. Entscheidend, um eine weitere soziale Schieflage zu verhindern, wird sein, ob der Freistaat klammen Kommunen hilft. „Es muss einen finanziellen Ausgleich geben“, fordert Beyer. (Tobias Lill)
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