Jeder Einzelne kann dazu beitragen, die vierte Welle in der Corona-Pandemie zu überwinden - das hat der Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Eckhard Nagel, von der Uni Bayreuth betont. Einen konkreten Vorschlag hat er, um den Mangel an Pflegekräften auf Intensivstationen zu beheben und das derzeitige Personal zu motivieren: Ihnen müsste im kommenden Jahr das Gehalt verdoppelt werden. Zugleich warnte der Mediziner, der auch in Philosophie promoviert hat und 2010 Präsident des Ökumenischen Kirchentags in München war, vor Panikmache: Die Bevölkerung dürfe nicht verunsichert werden. Mit dem Begriff der Triage werde zu leichtfertig umgegangen.
Frage: Herr Nagel, Deutschland steckt inmitten der vierten Corona-Welle mit noch nie da gewesenen Infektionszahlen. Was kann jeder Einzelne jetzt tun?
Nagel: Ich glaube, in einer solchen Situation, wo es um die individuelle Gesundheit geht, muss auch jeder auf sich selbst schauen. Die Menschen sollten in einer so unsicheren Situation auf Kontaktbeschränkungen achten ohne jede Verordnung. Dazu gibt es allerdings nur geringe Bereitschaft. Ein anderer Bereich ist der der Impfung. Auch da muss sich jeder die Frage stellen: Warum habe ich mich nicht impfen lassen? Habe ich mich ausreichend informiert? Kann ich auch ein Risiko für andere darstellen? Wie rechtfertige ich das vor mir selbst? Offensichtlich gibt es einen Mangel an Bereitschaft, sich umfassend zu informieren, Hausärzte aufzusuchen, Bedenken zu artikulieren. Die Überwindung dieser Pandemie ist ganz stark vom Einzelnen abhängig - wahrscheinlich viel stärker als vom Verhalten der Politik.
Frage: Wir sehen Bilder von Bundeswehr-Flugzeugen, die Intensivpatienten verlegen, immer wieder wird auch vom Szenario einer Triage gesprochen.
Nagel: Ich bin empört über Ärzte und Politiker, die leichtfertig den Begriff der Triage um der Aufmerksamkeit willen in den Raum werfen und davon reden, dass das unvermeidlich sei. Ich finde das unverantwortlich. Wir hatten diese Diskussion schon einmal im Rahmen der dritten Welle. Das hat die gesamte Bevölkerung verunsichert im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit unseres medizinischen Systems. Wir hatten in den vergangenen zwei Jahren keine Situation, in der Patientinnen und Patienten in Notlagen nicht behandelt werden konnten, auch wenn wir sehr stark an den Rand unserer Leistungsfähigkeit gestoßen sind. Aber dass ein Patient verlegt werden muss, kennen wir in den Krankenhäusern. Das wird nicht medial begleitet, aber es gehört ein Stück weit zum medizinischen Alltag. Regelmäßig werden Patienten in andere Krankenhäuser verlegt, um adäquat versorgt werden zu können. Dabei will ich die aktuelle Not in Süddeutschland nicht relativieren. Dass wir jetzt in einer Situation sind mit weiter steigenden Patientenzahlen ist natürlich mit Sorge zu betrachten. Aber hier davon zu sprechen, dass Patienten Angst haben müssten, gar nicht mehr behandelt zu werden, halte ich für unsensibel und rücksichtslos. Ich will nichts schönreden, es ist problematisch. Aber ich weiß nicht, wie diese Panikmache helfen soll, mit der Pandemie besser umzugehen. Hier bin ich wirklich empört über die Art und Weise, wie die Diskussion geführt wird.
Frage: Die Notfall-Versorgung ist also gesichert?
Nagel: Unbedingt. An jedem Morgen ist es in Deutschland so, dass in großen Kliniken Betten für Intensivpatienten gesucht werden. Wir können Patienten umfassend intensivmedizinisch betreuen. Wir haben deutlich mehr Intensivbetten als alle anderen europäischen Länder im Hinblick auf die Anzahl der Bevölkerung. Aber wir haben leider die Situation, dass schon seit geraumer Zeit nicht mehr alle Intensivbetten betrieben werden können, weil wir einen Pflegemangel haben. Und das sehe ich mit Sorge. Die Mitarbeitenden auf den Intensivstationen sind in einer permanenten Anspannung. Das hat dazu geführt, dass eine Reihe von Mitarbeitern aus dem Beruf ausgeschieden sind. Ich habe die Sorge, dass wir zu einer Dauer-Überlastung des Personals kommen. Da muss man feststellen: Wir haben zwar darüber diskutiert, es steht auch im neuen Koalitionsvertrag, dass man sich um Pflegeberufe und ärztliche Versorgung besser kümmern möchte, doch ein konkretes Handeln fehlt bisher. Als wichtiges Instrument zur Bewältigung der vierten Welle würde ich mit Beginn des Jahres 2022 das Einkommen der Pflegekräfte und Ärzte auf Intensivstationen verdoppeln. Auch wenn wir wissen, dass Finanzierung alleine die Anstrengungen nicht erleichtert. Aber eine Verdopplung des Gehaltes in diesem Zeitraum führt dazu, dass Menschen nochmal motiviert werden und zusätzliches Personal gewonnen werden kann. Ich bin sicher, dann kommen viele qualifizierte Kräfte zurück - auch aus Verantwortungsbewusstsein, aber weil sie sich mit Respekt gesehen fühlen.
Frage: Gibt es Licht Ende des Tunnels? Was kann uns heraushelfen?
Nagel: Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir Hoffnung haben. Mir ist die gesamte Diskussion viel zu stark von Angst bestimmt, an manchen Punkten kann man schon von Panik sprechen. Gleichzeitig ist die öffentliche Diskussion von der Suche nach den Schuldigen geprägt. Frei nach dem Motto - "haltet den Dieb": Welchen Anteil haben die Ungeimpften, die Fußballfans, die Reisenden, die Jugendlichen? Aktuell scheinen sich die politisch Verantwortlichen auf die Frage zu konzentrieren: Ist die aktuelle oder die kommende Regierung schuld, sind es die Landesregierungen? Das hilft doch niemandem. Das trägt zu einer Nervosität, zu einer Unsicherheit, zur Orientierungslosigkeit bei. Man sollte auf die Fakten schauen: Eine Pandemie verläuft in der Regel in Wellen. Klassischerweise darf man davon ausgehen, dass diese Welle wieder abflacht. Die Frage ist: Wie lange dauert das? Und wie können wir mit unserem Verhalten dazu beitragen, dass diese Welle so kurz wie möglich bleibt. Konkret liegt es in der Verantwortung von jedem Einzelnen von uns, unkontrollierbare Kontakte zu reduzieren und dadurch einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Das, was wir in Kindergärten und Schulen sinnvollerweise tun, müssten auch Erwachsene tun: Am Arbeitsplatz täglich testen. Jeder, der Symptome bekommt, der unsicher ist, muss generell Kontakte unbedingt vermeiden. Wir müssen nicht zu einem völligen Lockdown kommen, sondern wir müssen umsetzen, was wir bereits gelernt haben: verantwortlich zur Arbeit gehen, verantwortlich Vorlesungen besuchen, verantwortlich am öffentlichen Leben teilnehmen - indem wir die jeweils vorliegenden Konzepte konsequent umsetzen und bedingungslos einhalten.
(Interview: Kathrin Zeilmann, dpa)
Zur Person:
Der Mediziner Eckhard Nagel (61) ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth. Er hat zudem auch im Fach Philosophie promoviert. Nagel gehörte von 2008 bis 2016 dem Nationalen Ethikrat an. 2010 war er der evangelische Präsident des Ökumenischen Kirchentags in München. (Foto: dpa/Marcus Führer)
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