Politik

Sie sind das Kennzeichen der Bundesverfassungsrichter*innen: die roten Roben. (Foto: dpa/Uli Deck)

01.10.2021

Unabhängig und mächtig

70 Jahre Bundesverfassungsgericht: Auch für Bayern wurden bahnbrechende – und umstrittene – Entscheidungen gefällt

Es war ein starkes Signal, das die rund 30 000 gläubigen Bayern an jenem 23. September 1995 vom Münchner Odeonsplatz mit ihrer Demonstration in Richtung Karlsruhe sandten: Finger weg von Kruzifixen in Klassenzimmern. „Wir lassen nicht zu, dass mit den christlichen Symbolen zugleich die christlichen Werte aus der Öffentlichkeit verdrängt werden“, rief der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) den teils mit Kreuzen in der Hand versammelten Demonstrierenden aus ganz Bayern zu.

Der Unmut der Versammelten richtete sich gegen das Bundesverfassungsgericht. Denn das höchste deutsche Gericht hatte kurz zuvor die bayerische Sonderregelung, dass in jedem Klassenzimmer ein Kreuz hängen muss, für verfassungswidrig erklärt.

Das Kruzifix-Urteil war nicht das einzige Mal, dass das konsequente Eintreten für das Grundgesetz, das auch staatliche Neutralität in Religionsfragen gebietet, im Freistaat für Verdruss sorgte. So schob das höchste Gericht jeglichen Unabhängigkeitsansinnen Bayerns konsequent einen Riegel vor. Auch allzu scharfe christsoziale Einschnitte in die Freiheiten der Menschen beäugte man aus Karlsruhe skeptisch.

Doch auch andere Parteien mussten sich ein ums andere Mal vom Bundesverfassungsgericht zurechtstutzen lassen. So torpedierte Karlsruhe Anfang der 1960er-Jahre die Idee des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer, einen Staatssender zu gründen.

In dieser Woche feierte das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag. Der Passauer Politik-Professor Heinrich Oberreuter resümiert: „Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten vielfach bewährt und als Hüter des Grundgesetzes erfolgreich etabliert.“ Insbesondere für die Stärkung der Meinungs- und Pressefreiheit habe Karlsruhe viel geleistet. Und auch der Mainzer Politologe Gerd Mielke spricht von einer „großen Erfolgsgeschichte“.

Die einzige Instanz, die Parteien verbieten kann

Karlsruhe wacht über die Einhaltung der Grundrechte. Es soll verhindern, dass der Staat, wie während der NS-Zeit geschehen, Menschenrechte mit pseudolegalen Gesetzestexten hinwegfegt. Die Entscheidungen des höchsten Gerichts sind unanfechtbar. Es ist gegenüber den anderen Verfassungsorganen wie Bundestag oder Bundesregierung unabhängig. Karlsruhe kann aber nicht aus Eigeninitiative tätig werden, sondern muss von einer Person oder Institution angerufen werden.

Bereits frühzeitig fällte das Gericht Urteile mit weitreichenden Folgen: In den 1950er-Jahren verbot es die NSDAP-ähnliche Sozialistische Reichspartei (SRP) sowie die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als verfassungswidrig. 1959 entschied das Gericht, dass der sogenannte Stichentscheid des Vaters bei Uneinigkeit der Eltern über die Ausübung der elterlichen Sorge gegen das Gleichberechtigungsgebot verstieß. Im Brokdorf-Beschluss von 1985 hob Karlsruhe Verbote von Demonstrationen gegen den Bau eines Kernkraftwerks auf und verteidigte damit die Versammlungsfreiheit. Mehrfach stärkte Karlsruhe die Rechte des Parlaments sowie die Bürgerrechte: 1994 legte das Gericht fest, dass der Bundestag Militäreinsätzen stets vorher zustimmen muss. 2006 setzte Karlsruhe hohe Hürden für die Schleierfahndung.

Weil seine Entscheidungen die Geschichte der Republik prägten, wurde es mitunter als „Ersatzgesetzgeber“ diffamiert, der viel zu mächtig sei und sich über demokratisch beschlossene Gesetze hinwegsetze. Politologe Mielke lobt dagegen wie die meisten Experten dessen Überparteilichkeit: „Karlsruhe ist eine betont neutrale Instanz, die über der Parteipolitik steht.“ Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Verfassungsrichter*innen nur für eine Amtszeit von zwölf Jahren gewählt werden, also nicht um ihre Wiederwahl fürchten müssen.

Anders als etwa in den USA verhindert auch das gut ausbalancierte Wahlsystem, dass eine politische Seite den Kurs des Verfassungsgerichts auf viele Jahre hinaus prägen kann. Eine Hälfte der 16 Richter*innen wählt der Bundestag, die andere Hälfte der Bundesrat. Für die Wahl ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. In den vergangenen Jahrzehnten hatten sich deshalb Union und SPD oft ein gegenseitiges Vorschlagsrecht eingeräumt und im Vorfeld geeinigt. Mitunter wurde auch dem kleineren Koalitionspartner ein Vorschlagsrecht für Richter*innen einräumt. Hiervon profitierte insbesondere die FDP.

Bis heute bearbeitete Karlsruhe fast 250 000 Verfahren, davon über 96 Prozent Verfassungsbeschwerden. Eine Verfassungsbeschwerde kann sich gegen ein Gesetz, ein Gerichtsurteil oder eine behördliche Maßnahme richten. Allerdings müssen zuvor alle anderen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausgeschöpft werden.

Es ist die einzige Instanz, die politische Parteien verbieten kann. Die Hürden sind allerdings extrem hoch: 2017 scheiterte der Verbotsantrag gegen die NPD. Mitunter änderte Karlsruhe in seiner Geschichte auch schon einmal seine Meinung. Etwa bei Abtreibungen. Noch in den 1970er-Jahren hatte das höchste Gericht geurteilt, diese dürften keinesfalls straffrei bleiben. Viele Jahre später ließ Karlsruhe Schwangerschaftsabbrüche bis zum dritten Monat zu.

Bei den meisten Parteien ist die herausragende Arbeit Karlsruhes unbestritten. Das Gericht arbeite „immer ruhig, sachlich und an neue Umstände angepasst“, sagt Ludwig Hartmann, Chef der Grünen-Landtagsfraktion. Er hebt etwa hervor, dass Karlsruhe 2001 festlegte, dass die friedliche Teilnahme an einer Sitzblockade nicht das Tatbestandsmerkmal der Gewalt erfüllt. Auch der CSU-Innenexperte Josef Zellmeier hat „höchsten Respekt vor dem Gericht, das sich auch schon oft auch gegen den Zeitgeist gestellt hat“.
(Tobias Lill)

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