Politik

Sterbewillige Menschen wollen oft selbst begründete Absagen nicht akzeptieren. (Foto: dpa/Sebastian Kahnert)

06.09.2024

Viele Todkranke sind verunsichert

Selbstbestimmtes Sterben ist seit 2020 erlaubt – die Politik spricht aber weiterhin von einer „rechtlichen Grauzone“

Dieses Jahr sind bereits zwei Ärzte wegen Totschlags zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt worden. Der Vorwurf: Beihilfe zum Suizid. Sowohl ein Mediziner in Berlin als auch in Essen hätten einer Patientin beziehungsweise einem Patienten um die 40 Jahre mit schweren psychischen Erkrankungen auf eigenen Wunsch hin tödliche Medikamente überlassen. Beide Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Die Entscheidungen überraschen auf den ersten Blick, denn selbstbestimmtes Sterben ist – auch geschäftsmäßig – im Gegensatz zur aktiven Sterbehilfe, also der ausdrücklichen Tötung auf Verlangen, in Deutschland seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Februar 2020 erlaubt.

Konkret urteilte das Gericht, dass die Ärzteschaft auf Wunsch, also der sogenannten Beihilfe ohne Verpflichtung, ein tödliches Mittel straffrei beschaffen oder bereitstellen darf. Im Unterschied zur aktiven Sterbehilfe müssen die Betroffenen das Medikament selbst einnehmen. „Der Staat hat aber eine Schutzpflicht“, heißt es vom Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage der Staatszeitung. In den geschilderten Fällen bezweifelten die Richterinnen und Richter, ob die Getöteten wegen ihrer Erkrankung noch freiverantwortlich entscheiden konnten. Eigentlich war der Bundestag aufgefordert, die Sterbehilfe gesetzlich neu zu regeln. Doch die entsprechenden Initiativen scheiterten letztes Jahr im Bundestag. 

Seitdem finden assistierte Suizide nach offizieller Darstellung in einer rechtlichen Grauzone statt. Dem widerspricht der Sterbehilfeverein Dignitas. „Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung enthält die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Auflage für den Gesetzgeber, ein Sterbehilfe-Regulierungsgesetz zu schaffen“, betont deren Justiziar Dieter Graefe. Vielmehr sei lediglich die Möglichkeit eingeräumt worden, eine solche gesetzliche Regelung zu schaffen. „Freitodbegleitungen waren in Deutschland seit der Reichsgründung im Jahr 1871 stets zulässig, und zwar bis zum Dezember 2015.“ Erst danach hätten Sterbehilfe-Gegner ein Sterbehilfe-Verbotsgesetz bewirkt. 

„Suizidassistenz ist zulässig, eine rechtliche Grauzone existiert nicht“, bestätigt auf Anfrage der BSZ Rechtswissenschaftler Helmut Frister, der zuletzt im Deutschen Ethikrat für dieses Thema verantwortlich war. Knackpunkt sei aber, ob die Selbsttötung bewusst entschieden worden ist. Also, wurden Wartefristen eingehalten, psychische Beratungen angeboten und psychiatrische Gutachten erstellt? Um Letzteres ging es auch bei den gescheiterten Bundestagsinitiativen. Die eher konservativen Abgeordneten plädierten für ein Gutachten, die liberaleren wollten einen sterbenskranken Menschen nicht unnötig zur Psychiatrie schicken. 

Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) versichert, es gebe ein „doppeltes Vieraugenprinzip“ im Bereich Medizin und Justiz, um die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit von Sterbewilligen zu prüfen. „Theoretisch kann auch eine 40-Jährige ohne schwere Erkrankung diesen Hilfewunsch äußern“, sagt eine Sprecherin der BSZ. In der Praxis käme dies aber mangels nachvollziehbarer Gründe kaum vor. Der Verein klagt allerdings, dass viele sterbewillige Menschen begründete Absagen nicht akzeptieren würden. Von der Politik wünscht sich die DGHS-Sprecherin weniger Hürden bei der Suizidhilfe und ein liberaleres Betäubungsmittelgesetz.

Im Jahr 2023 nahmen 419 DGHS-Mitglieder eine organisierte Freitodbegleitung in Anspruch. Dignitas meldete zuletzt 257, der Verein Sterbehilfe 196 Suizidbegleitungen. Die meisten Menschen sind über 60 Jahre alt, die Hauptgruppe war zwischen 80 und 90 Jahre alt – zwei Drittel davon Frauen. In der Schweiz – wo der assistierte Suizid schon länger anerkannt ist – sind die Zahlen ähnlich. Als Beweggründe nennt die DGHS vor allem Krankheitsbilder wie Krebs, Multiple Sklerose (MS), Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Erblindung, chronische Erkrankungen oder die sogenannte Lebenssattheit. Manche Paare wollen auch zeitgleich versterben. Die DGHS rechnet bis zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr mit einem neuen Gesetz, obwohl es bereits neue Initiativen von einzelnen Abgeordneten gibt.

872 Freitode in 2023

„Unser Ziel ist es, noch in dieser Legislaturperiode eine Regelung auf den Weg zu bringen“, versichert die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Helling-Plahr. Eine interfraktionelle Gruppe mit Abgeordneten aller demokratischen Parteien arbeite bereits an einem liberalen Sterbehilfegesetz. Bei Gewissensfragen gibt es keinen Fraktionszwang. Regelungsbedarf sieht auch die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Kirsten Kappert-Gonther (Grüne). „Die Zahlen des assistierten Suizids steigen von Jahr zu Jahr an“, klagt sie im Gespräch mit der BSZ. Es brauche klare Regeln, damit niemand zum Suizid gedrängt werde. 

Fast wortgleiche Reformforderungen kommen aus Bayern. Daher arbeite das Haus von Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) parallel daran, die Hospiz- und Palliativversorgung weiter auszubauen. „Schwerstkranke und sterbende Menschen sollten nicht den Eindruck vermittelt bekommen, dass sie anderen zur Last fallen, und deshalb den Suizid wählen“, erklärt eine Sprecherin. Dennoch sei klar: „Ihr Leben wird nicht um jeden Preis verlängert.“ Auch die AfD-Fraktion im Landtag plädiert dafür, dass Menschen bei „Leid und Qual aus freiem Willen und ohne äußere Beeinflussung“ straflos aus dem Leben scheiden dürfen. 

Für den Medizinethiker Georg Marckmann von der Uni München hingegen braucht es kein neues Gesetz, alle relevanten seien im Urteil des BVerfG ausgeführt. Wichtiger seien medizinisch-fachliche Standards für die Prüfung der Entscheidungsfähigkeit. „Nach der Verurteilung der Ärzte sind viele – aus nachvollziehbaren Gründen – verunsichert und stehen einer Suizidassistenz eher zurückhaltend gegenüber.“ Dabei sollten auf Wunsch mehr statt weniger Menschen die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu sterben. Die Sorge, dass dadurch die Suizidraten in die Höhe schnellen, hält Rechtswissenschaftler Frister für unbegründet. Zwar stieg die Zahl im Vergleich zu 2020 um 3 Prozent. „Sie liegt im Durchschnitt aber immer noch unter der der letzten zehn Jahre.“ (David Lohmann)
 

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