Politik

Seit Corona haben sich die Wartezeiten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie verdoppelt. (Foto: dpa/Sebastian Gollnow)

29.07.2022

Wenige Fachleute, viel Not

Die Nachfrage nach Psychotherapie ist stark gestiegen – doch es gibt viel zu wenig Plätze. Was tun?

Ein ungewöhnliches Bild bot sich kürzlich auf dem Regensburger Neupfarrplatz: Rund 150 junge Leute hatten sich dort versammelt, viele von ihnen mit selbst gestalteten Plakaten. „Master? Desaster!“ war dort zu lesen. Oder schlicht: „Platzangst“. Studierende waren das, die auf diese Weise ihrem Frust über den Mangel an Masterstudienplätzen im Bereich Psychotherapie Luft machten. 

Das hängt mit der Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung zusammen, die vor knapp drei Jahren vom Bundestag beschlossen wurde. Diese wird nun stärker auf die Universitäten verlagert, wofür Bachelor-Studiengänge in Psychologie entsprechend angepasst wurden. Sie unterliegen nach wie vor dem Numerus clausus, der im vergangenen Wintersemester an mehreren bayerischen Universitäten bei 1,4 lag. Auf den Bachelor wird nun noch ein Masterstudium gesattelt, an dessen Ende, ähnlich wie in der Medizin, eine staatliche Prüfung und die Approbation steht. Anschließend kann nach mehrjähriger Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten oder zur Fachpsychotherapeutin die kassenärztliche Zulassung erreicht werden.

Der Haken daran: Zwar gibt es in Bayern inzwischen etliche Möglichkeiten für das Bachelorstudium, doch mit der Schaffung von Plätzen in Masterstudiengängen tun sich die bayerischen Universitäten schwer – weil ihnen offenbar die Mittel dafür fehlen. 
Nach Angaben des bayerischen Wissenschaftsministeriums können zum Wintersemester 2022/23 im gesamten Freistaat nur 75 angehende Psychotherapeut*innen ein Masterstudium aufnehmen – jedenfalls nach derzeitigem Stand. Viel zu wenig, kritisieren Fachleute wie der Präsident der bayerischen Psychotherapeutenkammer, Nikolaus Melcop: „Wenn die Zahl der Plätze so bliebe, wäre das extrem krass.“ Denn um den Bedarf einigermaßen zu decken, seien bayernweit pro Jahr mindestens 350 Masterstudienplätze notwendig. Das zeigten Erfahrungswerte aus den vergangenen Jahren, sagt Melcop. Falls das nicht gelinge, seien weitere Engpässe in der Versorgung vorprogrammiert. 

Düstere Aussichten für diejenigen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben und deshalb therapeutische Hilfe brauchen. Die sei schon heute oft schwer zu bekommen, sagt Ruth Waldmann, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion. Bei den 6217 niedergelassenen Psychotherapeut*innen in Bayern müsse man im Schnitt fünf Wochen auf ein Erstgespräch warten. Bis zum tatsächlichen Behandlungsbeginn vergingen 19 Wochen. Für Waldmann „nicht akzeptabel“.

Noch schlimmer ist die Situation im Bereich Kinder- und Jugendpsychotherapie. Eine Studie der Universität Leipzig ergab, dass sich hier seit Beginn der Corona-Pandemie die Wartezeit auf ein therapeutisches Erstgespräch im Bundesdurchschnitt verdoppelt hat: von fünf auf zehn Wochen. Wer einen Therapieplatz braucht, muss sogar sechs Monate ausharren, so die Leipziger Studie. In ländlichen Gebieten, die meist schlechter versorgt sind, könne es sogar über ein Jahr dauern. „Die Nachfrage nach Psychotherapie hat auch durch Corona noch mal zugenommen und ist in den meisten Regionen Bayerns weitaus höher, als es Behandlungsplätze gibt“, bestätigt Nikolaus Melcop. Das hänge mit der Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses für die ambulante psychotherapeutische Versorgung der Kassenärztlichen Vereinigungen zusammen, die „von Kostendeckelung geprägt“ sei. „Mit dem tatsächlichen Bedarf hat das wenig zu tun“, sagt der Kammerpräsident. 

Mehr Masterstudienplätze gefordert

Um zu verhindern, dass die Wartezeiten in ein paar Jahren womöglich noch länger werden, weil es an Psychotherapeuten mangelt, brauche man unbedingt mehr Masterstudienplätze, fordert er. SPD und Grüne sehen das ebenso. Der Freistaat müsse den Universitäten genügend Geld dafür zur Verfügung stellen, betonen Ruth Waldmann und Verena Osgyan, hochschulpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion. Wenn Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) jetzt nicht handle, dann „nimmt er in Kauf, dass wieder einmal die Schwächsten in unserer Gesellschaft die Leidtragenden sind“, sagt Osgyan und verweist darauf, dass die Grünen in den vergangenen Jahren bereits 3,8 Millionen Euro für das Vorhaben gefordert hätten. Auch deshalb, weil die neuen Masterstudiengänge einen hohen Anteil an Praxisinhalten haben, weshalb mehr Personal gebraucht wird. 

Auf dieses Thema angesprochen, verwies Blume in den vergangenen Monaten gern auf die Autonomie der Hochschulen: Die Universitäten entschieden schließlich selbst über die Einrichtung und Ausstattung von Studiengängen. Inzwischen gibt es im Wissenschaftsministerium aber offenbar ein Umdenken. Es werde intensiv an einer Aufstockung der Plätze gearbeitet, sagt ein Sprecher. Konkrete Zahlen dazu könne man jedoch noch nicht nennen. Druck macht jetzt auch der Gesundheitsausschuss des Landtags: Auf Antrag der SPD verabschiedete er kürzlich eine Beschlussempfehlung, wonach die Zahl der Masterstudienplätze zum nächsten Wintersemester „auf ein bedarfsgerechtes Niveau“ aufgestockt werden solle. Auch CSU und Freie Wähler stimmten dafür. 

An den Universitäten ist derweil die Unruhe groß. Nach derzeitigem Stand werden zum kommenden Wintersemester nur die Universitäten in München, Regensburg, Nürnberg-Erlangen, Bamberg und Würzburg den neuen Masterstudiengang für angehende Psychotherapeut*innen anbieten, jeweils 15 Plätze. Die Zahl der Interessenten liegt jedoch um ein Vielfaches höher. Allein in Erlangen gebe es rund 200 Bewerbende, sagt Matthias Berking Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Entsprechend hart ist der Konkurrenzkampf. „Das ist ein unglaublicher Stress“, sagt auch Nikolaus Melcop. „Die Studierenden sehen sich dazu gezwungen, um jedes Notenzehntel zu kämpfen, um die Chance auf einen Masterstudienplatz zu erhöhen.“ (Brigitte Degelmann)

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