Politik

Einer der mutmaßlichen Rädelsführer von Umsturzplänen der sogenannten Reichsbürgerszene wird von der Polizei abgeführt. (Foto: dpa/Boris Roessler)

12.01.2023

Wenn das Misstrauen überhandnimmt

Politikwissenschaftlerin Ursula Münch und Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinemann diskutieren an der Uni München über die Gefahr von Verschwörungstheorien

Wo fängt Verschwörungstheorie an, wo hört gebotene Skepsis auf. Und wie gefährdet ist die Demokratie, wenn ein kleines Häuflein an Umsturzplänen arbeitet – und sich der Zweifel an der Redlichkeit traditioneller Institutionen in der Gesellschaft breitmacht? Das diskutierten diese Woche Carsten Reinemann, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), und Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.

Um es vorwegzunehmen: Noch ist Deutschland weit entfernt von Zuständen wie in den USA, wo sich zwei annähernd gleich große Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen und Argumente nicht mehr durchdringen, attestierten Münch und Reinemann. Nur: Auch von einer Menge von 10 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die Studien zufolge nur allzu empfänglich für Verschwörungstheorien aller Art ist, gehe eine Gefahr aus. „Das ist schon eine relevante Größe“, sagte Reinemann. „Und wenn ein Teil davon irgendwann zur Gewalt greift, dann habe ich als Gesellschaft auch mit einer kleinen Gruppe ein Problem.“

Die Reichsbürger-Bewegung, die daran glaubt, dass das Deutsche Reich fortbesteht und deswegen alle Institutionen der Bundesrepublik ablehnt, hält Reinemann wegen ihrer extremistischen Tendenzen für „problematisch“. Nach Bekanntwerden von Umsturzplänen hatte es in ganz Deutschland Verhaftungen gegeben. 

Verschwörungstheorien um Mächte, die im Verborgenen wirken, sind kein Phänomen der heutigen Zeit. In den 1990er-Jahren habe etwa eine Serie wie Akte X enormen Zulauf gehabt, sagte Reinemann. Auch er sei ein großer Fan gewesen. „Eine richtig deftige Verschwörungstheorie ist auch für Nichtgläubige was Tolles“, bestätigte Münch. „Man fragt sich: Warum glauben manche Menschen sowas?“

So unterschiedlich die Theorien auch sein mögen: Ihre Anhänger*innen eint, dass sie ein starkes Misstrauen gegenüber Institutionen haben und tatsächliche oder vermeintliche Widersprüche entdeckt haben, aus denen sie schlossen, dass das kein Zufall sein kann. Die schnelle Aufeinanderfolge großer Krisen in den vergangenen Jahren, die sozialen Netzwerke, über die sich Menschen vernetzen und Bestätigung finden können, sowie die Erosion traditioneller Institutionen wie der Kirche haben die Situation aus Sicht von Münch und Reinemann befeuert. 

Dazu komme, dass die meisten Theorien – Münch sprach lieber von Mythos oder Glaube – einen wahren Kern haben. „Die Geschichte ist auch voll von wirklichen Verschwörungen“, sagte Reinemann. „Von der Ermordung Cäsars bis zu heutigen pluralistischen Gesellschaften, die Kriege geführt haben, die auf Lügen aufgebaut waren.“ Verschwörung und Mythos voneinander zu unterscheiden, sei nicht immer einfach. „Wir als Universität wollen unsere Studierenden ja auch zu skeptischen nachfragenden Bürgern erziehen“, erklärte er. „Das Problem fängt an, wenn ich ein übersteigertes Maß an Skepsis und völliges Misstrauen in demokratische Institutionen, Medien und die Wissenschaft entwickle, das nicht gerechtfertigt ist.“

Münch nannte das eine „gewisse Fehlertoleranz“, die man den Akteuren entgegenbringen müsse. „Es gibt Korruption, es gibt eine Justiz, die Fehler macht, es gibt Wissenschaftler, die nicht redlich arbeiten.“ Deswegen dürfe man aber nicht alles in Zweifel ziehen. 

Gerade die empirische Wissenschaft, deren Kern die Vorläufigkeit von Wissen ist, tue sich mit solchen Zweifeln schwer, sagte Reinemann. Ihm sei bewusst, wie irritierend die widersprüchlichen Aussagen der Wissenschaft zum Masketragen in der Pandemie gewirkt haben. Moderator Oliver Jahraus, Vizepräsident der LMU, zitierte einen Kollegen, der gesagt habe: „Noch nie war die Wissenschaft so gefragt wie während Corona. Aber noch nie wurde die Wissenschaft so sehr infrage gestellt.“ 

Münch stimmte Jahraus zu. Die Bevölkerung habe gemerkt, dass sie sich mit wissenschaftlichen Aussagen beschäftigen musste, um zu wissen, welche Auswirkungen diese auf ihr übernächstes Wochenende haben würden. Und die eine oder andere Maßnahme sei eben auch Unsinn gewesen – was auch eine Einladung für Verschwörungstheorien gewesen sei. 

Politik und Medien müssen auch selbstkritisch sein

Für die Politikwissenschaftlerin ist die Konsequenz aus der jüngsten Vertrauenskrise, dass sich Politik, Medien und Wissenschaft fragen müssen: „Welchen Beitrag leisten wir, um dem Futter zu geben? Wo sind wir wirklich objektiv und wo möchten wir Leute von etwas überzeugen?“ Reinemann stimmte ihr zu: Die Wissenschaft müsse noch viel mehr offenlegen, wie sie arbeitet und darüber diskutieren, wo sie die Rolle der Beobachterin verlässt und selbst zur Akteurin wird. „Und man sollte sich sehr gut überlegen, wie sich das in der öffentlichen Wahrnehmung niederschlägt.“

Dass Demokratie Wissenschaft braucht, auch da waren sich die beiden einig. „Die Fähigkeit, sich zu revidieren und zu lernen, ist ein Grundelement freiheitlicher Demokratie“, sagte Münch. „Demokratie basiert auf Rationalität. Da können wir einen Beitrag leisten“, sagte Reinemann. (Thorsten Stark)
 

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