Politik

Viele Jugendliche entwickeln Ängste. Ein Problem: Reden sie nicht darüber, merkt es keiner. (Foto: dpa/Jens Kalaene)

13.12.2019

Wenn Kinder stumm leiden

Jeder fünfte Schüler hat psychische Probleme – die Hauptursachen: Leistungsdruck und Mobbing

Jedes fünfte Kind ist psychisch belastet, fast jeder sechste Schüler wird gemobbt. Das sind die alarmierenden Zahlen, die Simone Fleischmann, Präsidentin des bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV) diese Woche präsentierte.

Psychische Probleme nehmen zu, bestätigt auch der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne. Bei Grundschulkindern kommen häufiger Verhaltensstörungen wie Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor, erklärt der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni München. Angststörungen und Depressionen werden dagegen überwiegend bei Jugendlichen festgestellt. Es gebe außerdem eine Geschlechtsverteilung. „Verhaltensauffälligkeiten wie etwa ADHS zeigen mehr die Jungen, während Auffälligkeiten bei Angst und Depression häufiger bei Mädchen sind.“

Aus Sicht des Psychiaters gibt es mehrere Gründe dafür, warum heute mehr Kinder und Jugendliche an psychischen Erkrankungen leiden. „Junge Frauen zum Beispiel haben mehr Stress, fühlen sich durch hohe Anforderungen mehr belastet und haben auch oft sehr hohe Erwartungen an sich selbst“, erklärt Schulte-Körne. „Manche schaffen das dann nicht.“ Dazu kommt: Der Druck, ständig Leistung erbringen, aber auch schlank sein zu müssen, werde durch soziale Medien verstärkt. Die Jugendlichen vergleichen sich dort und stünden so in einem permanenten Wettbewerb, erklärt der Experte. Aber auch Ängste spielen eine Rolle, sagt er. Die vor dem Klimawandel zum Beispiel. Oder die davor, später keinen passenden Job zu bekommen. „Sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler leiden unter Angststörungen“, so Schulte-Körne. „Wir haben Schüler mit Ängsten bei uns die sind ein halbes Jahr bis ein Jahr lang nicht mehr in die Schule gegangen.“

Ebenfalls ein großes Thema dabei: Mobbing. Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, die wegen Angststörungen bei uns sind, wurde gemobbt“, sagt Schulte-Körne. Ein Beispiel aus seinem Klinik-Alltag: Eine junge Schülerin, die immer gerne zum Unterricht ging, wird ängstlicher, möchte zu Hause bleiben. Sie bekommt Bauchschmerzen und die Mutter geht mit ihr zum Kinderarzt, der sie krankschreibt. Die Schülerin lernt damit, dass sie bei Belastungen nicht zur Schule muss. Eine Abwärtsspirale beginnt, sagt der Psychiater. Der Auslöser in diesem Fall: Mitschüler hatten schlecht über das Mädchen geredet, ihr auch die Schultasche auf dem Heimweg vom Rad gerissen. Und sie haben sie als dumm bezeichnet, was die Schülerin irgendwann selbst glaubte. „Sie entwickelte Ängste, wurde stiller, zog sich zurück und redete nicht darüber“, sagt Schulte-Körne. „Niemand merkt es.“

Schulen und Psychiatrie sollten zusammenarbeiten

Schulte-Körne sieht dringenden Handlungsbedarf. „Lasst die Profis in die Schulen“, fordert er. Denn eine stärkere Zusammenarbeit von Experten sei nötig. Etwas, was sich auch Lehrerverbandspräsidentin Fleischmann schon lange wünscht. „Wir brauchen mehr professionell ausgebildete Lehrer und Multiprofessionalität“, sagt sie. Eine Frage sei schließlich: Wie geht es den Kindern mit psychischen Problemen in den Schulen, in denen sie die meiste Zeit verbringen? Eine andere: Wie geht es mit den Kindern in der Schule weiter, wenn sie wieder „fit aus der Klinik kommen“? Fleischmann fordert „Kooperations- und Teamzeiten“ für den professionellen Austausch von Lehrern etwa mit Schulpsychologen oder auch mit Vertretern einer Klinik. „Es wäre schön, wenn diejenigen, die das Kind behandelt haben, dann auch mal mit am Tisch sitzen könnten.“

In bestimmten Entwicklungsphasen ist das Risiko, psychisch zu erkranken, besonders hoch. „Einschulung, Übertritt und Pubertät sind die Phasen, wo wir die größte Zunahme von Erkrankungen haben“, erklärt Schulte-Körne. „Aber auch die Familien, in denen die Kinder aufwachsen, haben sich verändert, sind heterogener geworden.“ Auch habe sich die Gesellschaft und ihre Werte gewandelt.

Schulte-Körnes Forderung: Schule müsse sich dem Thema weiter öffnen. Es auch in der Aus- und Weiterbildung verankern. „Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Stigma in unserer Gesellschaft.“ Viele tendierten deshalb immer noch dazu, das Thema abzuwehren, das bemerke er auch im Schulsystem. „Das liegt daran, dass viele einfach zu wenig davon wissen. Wenn man weiß, wie man mit so einer Erkrankung umgehen kann, mindert das die Ängste“, so der Experte.

Das Kultusministerium immerhin hat bereits reagiert. Mit einem Zehn-Punkte-Programm zur Aufklärung über Depressionen und Angststörungen will es psychischen Krankheiten von Schülern präventiv begegnen. Darin enthalten: eine altersgerechte Aufklärung, schulpsychologische Beratungsangebote sowie Möglichkeiten für die Vermittlung außerschulischer Ansprechpartner und Beratungsstellen. All das waren Forderungen von Schülerinnen und Schülern, die mittels einer Petition das Thema Depression in den Blick der Bildungspolitiker rückten.

In den USA sei man allerdings schon um einiges weiter, berichtet Schulte-Körne. „Da kommen die Experten in die Schule und machen dort auch die Diagnostik. Seine Empfehlung an Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler): die Fortführung eines Modellprojekts, das vor einigen Jahren mit Förderschullehrern durchgeführt wurde. Dabei ging es darum, aufzuzeigen, wie man psychische Belastungen erkennen kann. „Das war extrem erfolgreich. Das würde ich mir für alle Schularten wünschen.“

Manchmal aber trügen die Zahlen auch. Zum Beispiel, was die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) anbelangt. Aus diagnostischer Sicht haben die Fälle nicht zugenommen, sagt Schulte-Körne. Es gebe zwar mehr unruhige Kinder, um ADHS handelt es sich aber nicht. Was dagegen tatsächlich zugenommen habe: das Bewusstsein für diese Störung.
(Lucia Glahn)

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