Politik

Flashbacks und Albträume: Viele Menschen aus der Ukraine leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. (Foto: dpa/Christoph Reichwein)

14.04.2022

"Wir rechnen mit vielen psychischen Problemen"

Traumaexperte Thomas Ehring über die Belastung von Geflüchteten aus der Ukraine, die Frage, ob die Politik ausreichend Unterstützung bietet und warum Deutsche hamstern

Flucht unter Lebensgefahr: Manche Menschen stecken das weg, andere leiden ihr Leben lang. Der Münchner Psychologe Thomas Ehring erklärt, wo es für Menschen aus der Ukraine Hilfe gibt, wie die Erfahrungen aus der Fluchtbewegung 2015 bei der Integration helfen und welche Parallelen es zur deutschen Kriegsgeneration gibt. 

BSZ: Herr Ehring, schätzungsweise vier Millionen Menschen sind bisher aus der Ukraine geflohen. Was löst das in den Betroffenen aus?
Thomas Ehring: Menschen reagieren unterschiedlich, das merken wir auch in der aktuellen Situation. Gefühle wie Angst, Trauer, Wut sind übliche Reaktionen auf extreme Ereignisse und werden sicherlich auch von vielen der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern empfunden. Aber die Reaktion hängt stark davon ab, was Menschen im Krieg, auf der Flucht oder bei der Ankunft erlebt haben. 

BSZ: Wie geht es dann weiter?
Ehring: Wenn die unmittelbare Bedrohung vorbei ist, gibt es unterschiedliche Verläufe. Viele schaffen es, die Erfahrungen gut zu verarbeiten und ihr Leben psychisch weitgehend unbeeinträchtigt weiterzuführen. Aber es gibt auch Personen, die eine psychische Störung entwickeln. Wir wissen von den letzten Fluchtbewegungen nach Deutschland, dass dies leider auf eine große Anzahl zutrifft. Aber wie gesagt: Es betrifft nicht jeden. Es erstaunlich zu sehen, wie resilient Menschen auch auf extreme Situationen reagieren können. 

BSZ: Ab wann spricht man von einem Trauma?
Ehring: Wir müssen zwischen dem Erlebnis und der Reaktion darauf unterscheiden. Von einem Trauma sprechen wir, wenn Menschen massive Bedrohungen erleben, mit dem Tod bedroht oder verletzt werden oder sexuelle Gewalt erleben. Die Reaktion auf diese Ereignisse kann aber sehr unterschiedlich sein. Manche Personen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, bei der Erinnerungen an die Erlebnisse immer wieder kommen, zum Beispiel in Form von Flashbacks oder Albträumen. Betroffene versuchen, alles zu vermeiden, was sie an die Erlebnisse erinnert. Sie sind sehr schreckhaft oder entwickeln Schlafstörungen.

BSZ: Sollten Helferinnen und Helfer Geflüchtete auf ihre Erfahrungen ansprechen?
Ehring: Bei den Menschen aus der Ukraine sind die Erlebnisse noch sehr frisch. Es ist immer gut, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Wichtig ist aber, dass niemand dazu gezwungen werden sollte, über die Erlebnisse zu sprechen. In dieser frühen Phase geht es vor allem darum, Sicherheit zu erlangen, soziale Unterstützung zu erfahren und zum Beispiel wieder eine Tagesstruktur zu bekommen. Die Betroffenen können dann am besten selbst entscheiden, ob, wann und mit wem sie über die Erlebnisse sprechen möchten. 

BSZ: Wo können sich traumatisierte Menschen Hilfe suchen?
Ehring: Es gibt einige Einrichtungen, die auf geflüchtete Menschen eingestellt sind. Das Beratungs- und Behandlungszentrum Refugio München hat sogar spezielle Angebote für Geflüchtete aus der Ukraine. Auch in der Traumaambulanz an der Universität München, die ich leite, bieten wir Therapie für traumatisierte Geflüchtete an. Die psychosoziale und psychotherapeutische Behandlung von Menschen aus einer anderen Kultur hat einige Besonderheiten – zum Beispiel die Herausforderung der anderen Sprache. Bei den Fluchtbewegungen 2015/16 war das Gesundheitssystem noch nicht so gut auf geflüchtete Menschen eingestellt, aber wir haben aus den Erfahrungen gelernt. 

BSZ: Was genau hat sich seitdem geändert?
Ehring: Viele Einrichtungen haben Erfahrungen mit der Behandlung von Geflüchteten gemacht. Außerdem wurden verschiedene Studien durchgeführt, um herauszufinden, wie geflüchteten Menschen geholfen werden kann. So haben wir in der Traumaambulanz zum Beispiel Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Ländern behandelt und untersucht, welche Behandlungsmethoden wir beibehalten und welche wir neu erarbeiten müssen. So ist es zum Beispiel wichtig, die Behandlungen so zu adaptieren, dass sie zum kulturellen Hintergrund der geflüchteten Menschen passen. 

BSZ: Reichen denn die vorhandenen Kapazitäten für die Menschen aus der Ukraine aus?
Ehring: Das müssen wir abwarten. Noch wissen wir zu wenig, was sie erlebt haben und wie viele unter posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Störungen leiden werden. Wir wissen aber von früheren Kriegen und Vertreibungen, dass diese Menschen deutlich stärker von psychischen Störungen betroffen sind als die einheimische Bevölkerung. Daher erwarten wir mit etwas Verzögerung viele psychische Probleme. Betroffene sollten sich unbedingt professionelle Hilfe suchen. Die gute Nachricht ist: Posttraumatische Belastungsstörungen und auch andere psychische Störungen sind gut behandelbar.

"Wir müssen sensibel zu reagieren. Dazu gehört übrigens auch, Geflüchteten vonseiten der Politik die Angst vor einer möglichen Abschiebung zu nehmen"

BSZ: Worauf muss bei der Integration von geflüchteten Kindern und Erwachsenen geachtet werden?
Ehring: Grundsätzlich ist es hilfreich, wenn Kinder und Jugendliche in die Schule, aber auch Erwachsene in Ausbildung oder Beruf integriert werden. Das kann stabilisierend wirken. Wichtig ist, dass eine Struktur entsteht und Perspektiven aufgezeigt werden. Wenn geflüchtete Menschen merken, dass sie dauerhaft keiner sinnvollen Beschäftigung nachgehen können, wirkt sich das negativ aus. Generell braucht es vor allem am Anfang viel Verständnis, weil die Personen oft nicht wissen, wie es ihrer Verwandtschaft geht, und entsprechend in großer Sorge sind. 

BSZ: Bei den Geflüchteten aus der Ukraine ist die Hilfsbereitschaft in Deutschland sehr groß. Haben Sie das Gefühl, dass bei Menschen aus anderen Krisenregionen mit einem anderen Maß gemessen wird?
Ehring: Das ist schwer zu sagen, die Situation ist ja noch sehr frisch. Auch die dauerhafte Reaktion von staatlicher Seite müssen wir noch abwarten. Wichtig ist, dass die Hilfe nachhaltig und langfristig ist. Das war bei der Fluchtbewegung 2015/16 in vielen Bereichen leider nicht so, wie es für die Betroffenen notwendig gewesen wäre. Viele, die damals gekommen sind, bräuchten immer noch psychische Unterstützung und Hilfe bei der Integration in den Arbeitsmarkt beziehungsweise in die Gesellschaft. Ich hoffe, dass es dieses Mal anders wird.

BSZ: Der Probealarm für die Sirenen in Bayern wurde dieses Jahr wegen des Krieges in der Ukraine abgesagt, um vor allem geflüchtete und ältere Menschen nicht zu erschrecken. Was können wir als Gesellschaft sonst noch tun, beispielsweise auf Feuerwerk verzichten?
Ehring: Wir müssen uns bewusst machen, dass bei Menschen nach traumatischen Erlebnissen viele Erinnerungsreize starke Angst auslösen können. Wichtiger als Einzelmaßnahmen zu treffen ist es, sensibel zu reagieren, Verständnis für die Situation aufzubringen und den Menschen dabei zu helfen, sich wieder in Sicherheit zu fühlen. Dazu gehört übrigens auch, ihnen vonseiten der Politik die Angst vor einer möglichen Abschiebung zu nehmen. 

BSZ: Viele Menschen in Deutschland hamstern jetzt Speiseöl oder informieren sich über mögliche Bunker in ihrer Nähe. Sind das auch schon traumatische Züge?
Ehring: Nein. Was wir erleben, ist nur eine mittelbare Bedrohung. Die Situation wird von Menschen als instabil und weniger vorhersehbar wahrgenommen als andere Konflikte. Daher haben sie eine ängstliche Erwartung, was passieren wird. Das Hamstern ist aber eher Ausdruck eines Schutzbedürfnisses angesichts der wahrgenommenen Unsicherheit. Das ist etwas anderes, als akute Todesangst zu haben. (Interview: David Lohmann)

Thomas Ehring ist Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität München. Foto: LMU

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