Unser Bayern

Wie ein Bergkristall ist der Prinz-Rupprecht-Pavillon über Streitberg scheinbar aus dem Fels herausgewachsen. In Wirklichkeit ließ ihn der Nürnberger Kommerzienrat Ignaz Bing dort errichten, wo 1904 Prinz Rupprecht von Bayern den Ausblick genossen hatte. (Foto: dpa/Nicolas Armer)

13.01.2023

Berauschender Gleichklang

An vielen Orten Frankens ist die besondere Verbindung von Kultur und Natur im romantischen Sinn zu erspüren

"Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: ‚Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.’“

Der so als „Taugenichts“ Titulierte aus der gleichnamigen Erzählung des Joseph von Eichendorff lässt sich die Ermahnung nicht zweimal sagen und zieht mit nur ein paar Groschen und einer Geige aus dem Dorf hinaus, herumspringend wie ein Vogel – am Ende bis nach Italien. Mit wenigen Worten hat der romantische Dichter die „weite Welt“ entworfen, in die Gott einen schickt, wenn er ihm „die rechte Gunst erweisen“ will, so das Lied, das der Taugenichts dann gleich einer Lerche auf freiem Feld anstimmt. Noch heute verbreiten zahlreiche Musik- und Wandervereine mit diesen Versen die Botschaft vom beglückenden Genuss des ländlichen Raumes.

Der viel beachtete, in Bamberg lebende Geograf Werner Bätzing bezeichnet die traditionelle Exis­tenz auf dem Land allerdings als eine in der Gegenwart „gefährdete Lebensform“. Das mag so sein. In Franken jedoch findet man häufig noch einen „Locus amoenus“, also einen lieblichen – und wenn man so will: analogen – Ort im klassischen Sinne, an dem die ästhetisch angenehme Verbindung von Kultur und Natur das Herz des Menschen im digitalen Zeitalter erfreut. Es handelt sich freilich meist um kleine, räumlich eng umgrenzte Situationen, in denen die menschliche Gestaltung im Stil romantischer Geschichten oder alter Sagen und Märchen ihre Spuren hinterlassen hat und bis in die Gegenwart hinein die ersehnte Geborgenheit vermittelt.

Historische Mühlen im romantischen Stil Eichendorffs etwa oder Sitzgruppen an einem Bildstock tun der modernen Seele gut. Sobald man einen Platz unter dem viel besungenen Lindenbaum gefunden hat, kann sich freilich eine melancholisch-schmerzliche Nostalgie in die verträumte Gemütslage mischen. „Das griechische Wort für ‚Rückkehr’ ist Nostos. Algos bedeutet ‚Leiden’. Nostalgie ist also das Leiden, das durch eine unerfüllte Sehnsucht nach Rückkehr verursacht wird“, schreibt Milan Kundera.

Tanz unter Linden

In Effeltrich, wenige Kilometer nördlich von Erlangen kehrt man jedoch unter der tausendjährigen Tanzlinde eindeutig heiter gestimmt in eine frühere Zeit zurück, gerade bei gutem Wetter, wenn Vögel herumschwirren, durch die beträchtliche Baumkrone der blaue Himmel hindurchleuchtet und eine ganze Familie wie in uralten Zeiten darum herumtanzt. In Franken leben unter anderem noch die Tanzlinden in Limmersdorf, Peesten und Salmsdorf. Die Limmersdorfer Lindenkirchweih gehört zum bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes.

Bäume bieten an vielen Stellen Frankens ein für das ästhetisch geschulte Auge angenehm ermunterndes Zusammentreffen von Natur und Kultur. Man muss ja nicht den großen Autostraßen folgen, um endlich die von Seneca, Epikur und anderen gepredigte Glückseligkeit in einem Kulturgarten mit einem großen Baum zu finden. Abseits von heutigen Straßen ritt einst Karl der Große über den Steigerwald und pflanzte, so eine gern tradierte Legende, die nach ihm benannte Eiche bei Füttersee. Jene mächtige Kaisereiche bietet nach wie vor einen fast berauschenden Gleichklang von Kulturgeschichte und Natur und lädt zu einem Picknick auf dem umgebenden Wiesengrund ein. Gerade „die abgestorbne Eiche steht im Sturm“, betont Heinrich von Kleist, sodass alle Ängste verfliegen, wenn ein Windstoß das Astwerk aufwühlt. Einen zusätzlichen kulturellen Akzent setzt die Ortskirche von Füttersee mit einem beachtenswerten, bäuerlich gehaltenen spätgotischen Flügelaltar. Hier will einem Gott fürwahr die recht Gunst erweisen. Wer mit dem Auto kommt, muss nur einen kleinen Abstecher von der A3 aus machen. Im Dorfzentrum ist es endgültig still, vielleicht stiller und zurückgezogener als es im Mittelalter jemals war, man denke nur an das Federvieh, das in jeder bäuerlichen Siedlung zahlreich gehalten wurde und vielleicht eine größere Lautstärke entwickelte als eine heutige Straße, die von Hybrid- oder Elektroautos befahren wird.

Mancher Ritter im Begleitzug der Kaiser, wie etwa der südtiroler Kaufmann und Diplomat Oswald von Wolkenstein, der sich zusammen mit dem zitierten Reußen, also einem Russen, an einem Fass geklammert aus dem Schwarzen Meer retten musste, hatte nichts gegen das „Gellen“ vom Geschrei seiner eigenen Kinder, was in früheren Zeiten noch vielstimmiger gewesen sein muss. Sicher durchtönte es auch die Einsamkeit der Dörfer in den nach wie vor naturnahen Steigerwald-Rodungsinseln, zum Beispiel in Stierhöfstetten, wo eine archaische Chorturmkirche inmitten von Bauernhöfen die Kulturlandschaft beschaulich überragt.

Biotope in Steinbrüchen

Beim Steigerwald und den nördlicher gelegenen Haßbergen handelt es sich zwar nicht um das Schwarze Meer, wohl aber um die Versteinerung des Keupermeers, das bis heute zahlreichen Gebäuden Baumaterial liefert. Manche Steinbrüche sind freilich längst aufgelassen und dadurch umso nostalgischer und richtig poetisch geworden: Die Fingalshöhle bei Bad Windsheim zum Beispiel war einst ein Sandsteinbruch etwa für Stadtmauern. Die kulturelle Tätigkeit des Menschen schuf dort ein Biotop, das als Sonderform von Natur aus nicht entstanden wäre, nun aber manchen Pflanzen- und Tierarten, vor allem zahlreichen Vögeln, einen zusätzlichen Lebensraum bietet, den sie im Wald allein nicht vorgefunden hätten.

Belesene adelige Damen aus den umliegenden Schlössern waren es wahrscheinlich, die den Steinbruch nach einer Figur aus einem seinerzeit beliebten Versepos des 18. Jahrhunderts benannten. Einritzungen in die Sandsteinfelsen zeugen zudem vom Aufenthalt von Soldaten und machen das Ganze zu einem kulturgeschichtlichen Dokument in vollkommener Harmonie mit der Natur. Nicht umsonst ist dieses offizielle Bodendenkmal und Geotop ein besonders geschützter und entsprechend beschilderter Landschaftsbestandteil.

Natur- und Baudenkmäler par excellence sind freilich die eingangs mit Eichendorff angesprochenen historischen Mühlen, auch wenn ihre Räder nicht mehr „lustig brausen und rauschen“. Die ehemalige Lohndorfer Mühle am Ellerbach ist hier besonders erwähnenswert und heute als Ferienwohnung bewohnbar. Genau von hier aus könnte ein Taugenichts direkt in das freie Feld hinaushüpfen, zu Bächlein, die „von den Bergen springen“. Klug ist es gewesen, auch die umgebenden Stallstadel und Keller unter Denkmalschutz zu stellen, da sie zeigen, wie naturverträglich das Wirtschaften in alter Zeit möglich war – naturverträglich, gesundheitsfördernd, poetisch, sinnstiftend und insgesamt einfach menschlich.

Gesundheitsfördernd? Das empfand schon die Mutter von Johann Lucas Schönlein, die ihren Sohn – fürwahr kein Taugenichts – regelmäßig aus der Stadt Bamberg in jene Lohndorfer Mühle ihrer Verwandtschaft schickte, um seine Bewegung an der frischen Luft zu fördern. Später wurde aus dem Knaben einer der bedeutendsten Ärzte seiner Zeit, tätig am Krankenbett von Georg Büchner und Alexander von Humboldt. Sinnstiftend mag noch heute der Schönlein-Weg von der Mühle zur Lohndorfer Pfarrkirche hinauf sein. Und alte Bäume lehnen sich nach wie vor über die Kellereingänge im Fachwerkgewand – selbst wiederum bezeugend, wie Natur und Kultur rein baulich miteinander leben können. Es muss ja nicht immer Beton sein.


Wie aber hausten die Menschen in noch früheren Zeiten, lange vor dem Mittelalter und der Antike? Da kommen wir wieder zum Thema Höhlen zurück. Oberhalb von Lohndorf nämlich liegt im Wald die unter Archäologen berühmte Jungfernhöhle, in der man zerbrochene Knochen von Menschen aus der Jungsteinzeit gefunden hat. Ein Rätsel für die Prähistoriker. Man komme jedoch nicht um Mitternacht dorthin, denn Sagen erzählen von spukenden, kopflosen Jungfrauen im Umkreis der Höhle. Kein Wunder, dass sie kopflos sind, mussten sie ihre Schädel doch dem Historischen Museum in Bamberg zur Verfügung stellen.

Viele weitere, gut besuchte Höhlen der östlich von Lohndorf beginnenden Fränkischen Schweiz erweisen eine gelungene Integration der Natur in die Kultur aller Zeiten, und sei es durch den Tourismus, der hier bis auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Die ersten Reisenden waren sogar schon am Ende des 18. Jahrhunderts im damals sogenannten Muggendorfer Gebürg unterwegs, nämlich die Romantiker Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder.

Magie keltischer Siedlungen

Neben den Höhlen und Burgruinen des Feriengebiets sind markante Berge nach wie vor Anziehungspunkte, speziell die Ehrenbürg bei Forchheim sowie der Staffelberg bei Staffelstein. Beide Formationen mit höheren Sattelflächen inmitten eines Felsenkranzes dienten in den Jahrhunderten vor Christi Geburt der Hochkultur der Kelten als eine Art städtische Siedlung, was zahlreiche Funde belegen. Eine gewisse magische Ausstrahlung besteht bis heute. Von manchen His­torikerinnen hörte man, dass die Krönung Ludwigs IV. am 4. Februar des Jahres 900 zum ostfränkischen König wahrscheinlich nicht unten im Regnitztal, in der Pfalz zu Forchheim, sondern auf der Ehrenbürg vollzogen wurde. 1518 wurde der Berg durch ein Bild Albrecht Dürers gewürdigt.

Die prähistorischen, mit Mauern und Holzpfosten befestigten Wohn- und Kultorte auf beiden keltischen Hochplateaus sind nach mehreren Jahrtausenden wertvolle Biotope geworden und in den Landkarten als Naturschutzgebiete eingetragen. Man baute eben mit natürlichem Material. Selbst die Reste des imposanten Keltentors, eines groß angelegten Eingangsbauwerks nach „Menosgada“, so der Name des Oppidums auf dem Staffelberg, schmiegen sich so beschaulich in die Kulturlandschaft, als haben sie schon immer dazugehört.

Überhaupt hat man bei so manchen Bauwerken aus früheren Jahrhunderten den Eindruck, unsere heutige, nach der letzten Eiszeit geformte topografische Struktur, würde sie nicht nur dulden, sondern habe sie gleichsam gefordert. Das ist sicher an Gnadenorten wie Vierzehnheiligen der Fall, wo die Erscheinung einer Vielzahl von Paradiesischen dem begnadeten Baumeister Balthasar Neumann bei der Überhöhung der geografischen Vorlage die konstruierende Hand geführt haben mag – und damit ein Wunder der Architekturgeschichte der Menschheit heraufbeschwörte: Wo außen wohl geformte Einheitlichkeit herrscht, stoßen innen Seitenräume und Ellipsen tänzerisch aufeinander, im Grunde wie bei der Chaconne (BWV 1004) von Johann Sebastian Bach. Sein Schüler und Großneffe Johann Lorenz Bach wirkte übrigens 55 Jahre lang im nahen Itzgrund, den Herder wegen des schönen Zusammenklangs von Natur und Kultur „die schönste Gegend von der Welt“ nannte. Hier ist fast an jeder Stelle noch eine naturverbundene Annäherung an Dörfer möglich.

Amphitheater am Main

Balthasar Neumanns Würzburger Hauptwerke, die Residenz und das Käppele, setzen Akkorde zu beiden Seiten des Mains, die für den, der sie einmal erlauscht, niemals wieder im Leben verklingen werden. „In der Tiefe liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphitheaters“, schrieb Heinrich von Kleist. In der Mitte des Amphitheaters wiederum erhebt sich die Residenz. Deren Fassade zählt zu den großartigsten ihrer Art. „Der erste Blick auf San Marco vom westlichen Ende der Piazza gehört zu den ganz großen Erlebnissen, die dem Menschen beschieden sind“, schrieb Hugh Honour, ein sonst nüchtern urteilender Brite, über Venedig. Dasselbe trifft für den ersten Blick auf die Würzburger Residenz zu, der keiner Steigerung bedarf.

Dennoch ist eine Vermehrung der Freude an diesem Gebäude möglich auf eine Art, die man bei San Marco nicht kennt, wenn man die Natur mit einbezieht: Man kann hier zwar nicht Gondel fahren, aber um die Residenz herumgehen und sich an der Art erfreuen, wie anmutig sie sich in den umgebenden Gärten ausnimmt: Anlagen im französischen Stil, durchsetzt von allerlei Steinfiguren und gewölbten Pflanzendächern sowie ferne, mit heiteren Bauwerken bekrönte Weinberge erlauben zusätzliche Entdeckungen, die das Herz auf der Suche nach Kultur und Natur wie das des jungen Mozart – dem hier ein Fest gewidmet ist – geradezu herumhüpfen lassen.

Derart in Schwung versetzt, mag man vielleicht über einen alten Kreuzweg zum Käppele hinaufsteigen, von Terrasse zu Terrasse, jeweils mit Platanen bestanden, die alle als Naturdenkmäler eingetragen sind. Eine wunderbare Verbindung von Kultur und Natur. Man müsste schon – wie die bayerischen Könige – in die Toskana gehen, etwa auf die berühmte Piazzale Michelangelo oberhalb von Florenz, um einen angemessenen Vergleich zu finden. Dazu gibt es sogar eine historische Übereinstimmung, denn am Ende des Jahres 1805 wurde Würzburg kurzzeitig Kurfürstentum unter dem Erzherzog Ferdinand von Toskana. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war es in Würzburg freilich vorbei mit der herrlichen Schönbornzeit, die das kulturlandschaftliche Franken noch an vielen Orten prägt.

Dazu gehört der verschlungene Anstieg durch die Felsengewölbe der Riesenburg bei Engelhardsberg, die man auch direkt von der Bundesstraße und der mühlenbestandenen Wiesent aus bewundern kann. Graf Franz Erwein von Schönborn nämlich kaufte sie 1828 zur touristischen Erschließung und ließ sie durch Treppen zugänglich machen – Anlass dafür war der Besuch von König Ludwig I. und seiner Gemahlin Therese. Eine eingemeißelte Inschrift erinnert daran: „Folgend dem Windzug, kommen zum Felsen die Wolken und weichen, Unveränderlich steht aber der Fels in der Zeit. Ludwig I.“ Geistig etwas tiefer gehende Bilder und Sinnsprüche lieferten prominente Künstler und Dichter wie Ernst Moritz Arndt, Joseph Heller und Ludwig Richter. Das bayerische Umweltministerium widmete eine große Schautafel zur Geologie.

An der Wiesent sollte man die nahe gelegene Schottersmühle nicht übersehen, deren Eigentümer auf ihrer Internetseite eine erste urkundliche Erwähnung im Jahre 1367 anführen. „So wird die Schottersmühle Kulturerlebnisse in Einklang mit der atemberaubenden Natur bringen“, lautet das Versprechen, auch in Hinblick auf geplante Veranstaltungen. Nicht weit entfernt liegt die Pulvermühle, in der sich 1967 zum letzten Mal die Mitglieder der legendären Gruppe 47 trafen, um Schriftstellerkolleginnen und -kollegen zu loben oder abzukanzeln. Guntram Vesper fühlte sich dort „hingerichtet“, es schadete ihm aber nicht: 2016 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse.

Wenige Meter weiter südwestlich thront die Burg Rabeneck über dem Flusstal, eine der romantischsten Anlagen ihrer Art, denn daneben steht die Burgkapelle Sankt Bartholomäus auf einer eigenen Felsnadel. Der Künstler Theodor Rothbarth schuf von diesem Anblick 1840 eine reizvoll übersteigerte Lithografie. Mit der Wirklichkeit stimmt sie nicht ganz überein, wohl aber mit seinem – und unserem – jubelnden Bewusstsein, weshalb ihm dieser „Fake“ im Namen des kulturlandschaftlichen Empfindens einmal gegönnt sei.

Wie ein Gemälde der Romantik

Auch die Reste der Burgkapelle von Altenstein über dem Baunachtal könnten einem Gemälde eines Romantikers, etwa von Caspar David Friedrich, entsprungen sein, denn nur ein einziger gotischer Kringel in einem Spitzgewölbe hat sich erhalten. Da es sich hier um ein Wahrzeichen der ganzen Gegend zwischen Main und Thüringer Wald handelt, sollte man unbedingt die Summen investieren, die nötig sind, um das Abrutschen des tragenden Gesteins zu verhindern. Beim ganzen Burgenkundlichen Lehrpfad, auf dem wir uns hier bewegen, sind Natur und Architektur fast nicht zu unterscheiden, beispielsweise bei den ruinösen Teilen der Anlagen von Lichtenstein, Raueneck oder Rotenhan. Auch in Hohenstein im Hersbrucker Land verhält es sich so: Das Mauerwerk wächst gleichsam aus dem Fels heraus, als habe dieser sich eine Zier erschaffen wollen. Mit dem Teufelsstein im Hochwald bei Pfarrweisach wiederum hat die Natur einen Felsblock bereitgestellt, der im Hochmittelalter befestigt wurde und heute nur für Fachleute als ehemalige Burg wahrzunehmen ist. Wenn diese sich dem Sandsteinklotz in der Größe einer Doppelgarage nähern, gewahren sie nur drei Treppenstufen und zwei mittelalterliche Einritzungen: ein Rittergesicht und ein Mühlespiel. Kindern erzählen wir bei der Rast, Jagdfalken hätten die Bilder mit spitzen Schnäbeln eingraviert, und die Geister eines Minnesängers und eines Burgfräuleins spielten hier schon eine Ewigkeit lang das Mühlespiel um die Gewährung der Liebesgunst.

Andere Geschichten umranken fränkische Herrensitze, die innerhalb kleiner Gewässer liegen, etwa Irmelshausen, Mitwitz oder Mespelbrunn nahe dem berüchtigten Wirtshaus im Spessart. Ein Ruinenbiotop wiederum ist das ehemalige Wasserschloss Pommersfelden, von dem Lothar Franz von Schönborn einst Baumaterial für seinen grandiosen Landsitz Weißenstein entnommen hat. Deshalb ist hier nur noch ganz wenig Gemäuer und noch weniger Wasser auszumachen. Auf den weiten Wiesen der vor Ort vorüberfließenden Reichen Ebrach sieht man außer Gräsern, Schilf und Störchen überhaupt keine architektonischen Überreste, nur scheinbar unberührte Natur. Und doch gab es hier einmal die Wasserburgen Liebenau und Stolzenroth. Auch archivalisch hat sich über die Anlagen, die schon im 16. Jahrhundert nicht mehr existierten, fast nichts erhalten. Woher weiß man dann von ihnen? Ihre Grundrisse wurden im Frühjahr 1980 mit Hilfe von Luftbildkameras entdeckt, welche Schattierungen in den überschwemmten Wiesen identifizierten.

Nicht einmal luftbildarchäologische Nachweise existieren von einem versunkenen Schloss in den Aischwiesen bei Höchstadt. Nur eine Sage kündet von diesem fränkischen Atlantis: „Hier stand einst ein Schloss aus weißem Marmor. Die Tore waren aus Gold geschmiedet und die Fenster aus spiegelndem Kristall gefertigt. Um dieses Märchenschloss zog sich ein großer Garten, in dem die seltsamsten Bäume blühten und fremde Vögel ihre Lieder erklingen ließen. Darin wohnten sieben wunderschöne Jungfrauen. Für die Sorgen und Leiden ihrer Mitmenschen hatten sie aber kein Herz.“ Weiter berichtet die Sage, dass die Jungfrauen einst bei einem rauschenden Fest einen Bettler hinauswarfen. Dieser verfluchte aber die ganze Gesellschaft und schließlich versanken die feinen Menschen und das gesamte Schloss in dem Tümpel, der heute „Altlache“ genannt wird. Ältere Einwohner wollen bei Nacht dort klagende Hilferufe vernommen haben.

Auf der Suche nach naturnahen Gebäuden wird man in der Nähe der Altlache mit dem Denkmalensemble Alte Aischbrücke, Amtsschloss und Stadtmühle entschädigt. Das heutige Amtsschloss erhebt sich auf einer „hohen stete“ über dem Gewässer, dessen uralter Name mit dem litauischen „aiskus“ für „klar“ verglichen wurde. Drunten, an der teilweise verfallenen Stadtmauer, wiederum am Landschaftsübergang zur mäandrierenden Aisch hin, wurde in einem kleinen Häuschen 1781 der nachmals berühmte Johann Baptist Spix geboren, der auf einer Expedition mit dem Erlanger Naturforscher Carl Friedrich Philipp Martius die Aisch weit hinter sich ließ: Er erforschte den Amazonas an Stellen, wo nicht einmal mehr versunkene Schlösser auf Grund liegen. Keine Jungfrauen klagen oder lachen dort. Als Taugenichts in buntem Gefieder erscheint im Dschungel höchstens der eine oder andere Blauara, nämlich die nach Spix benannte Papageienart Cyanopsitta spixii, vielleicht beim Nachahmen der fränkischen Laute seines Entdeckers? An die Fränkische Schweiz erinnert zudem die durch Alexander von Humboldt – der 1792 als oberfränkischer Bergrat seine Karriere begann – erkundete Höhle von Ataruipe im Norden Lateinamerikas, in deren Nähe ein alter Papagei die untergegangene Sprache des ausgestorbenen Indianerstamms der Aturer gesprochen haben soll. Glaubhaft oder nicht, Papageien und andere Tiere können Natur- und Kulturschätze manchmal womöglich besser bewahren als der sich überlegen fühlende Kulturmensch. (Andreas Reuß)

Abbildungen (von oben):

Die Zeit mahlt selbst an den härtesten Elementen: Die Mühlsteine stehen vor einer Getreidemühle (erbaut 1575, erweitert 1601) im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim. (Foto: SZ PHOTO)

Markante Bäume, etwa die Tanzlinde in Limmersdorf, spielen gerne mit, wenn es um die Wahrung des heiteren Brauchtums und des kulturellen Erbes geht. (Foto: dpa/Nicolas Armer)

Bei der Ehrenbürg, genannt Walberla nahe Forchheim, scheint die Christianisierung bis heute nicht ganz gelungen: Anwohnerinnen bezeugen bei ihren Führungen nachdrücklich Erscheinungen von Einhörnern auf diesen magisch anmutenden Tafelbergen und zwischen deren Felsnadeln. (Foto: dpa/Nicolas Armer)

„Leben hier Riesen?“, fragen Kinder beim Aufstieg durch die Riesenburg in der Fränkischen Schweiz, und nur nüchtern analysierende Geologen oder Anthropologen widersprechen. Inspirierte Erwachsene erzählen „alte maeren“, welche die Natur hier selbst ersonnen hat und lassen sie von fantasiebegabten Jugendlichen weiterspinnen. (Foto: dpa/Nicolas Armer)

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