Unser Bayern

Eines der spektakulärsten Stücke der Sünchinger Sammlung: Schellen, die ein Häftling zum Dank für die gelungene Flucht der Muttergottes opferte. (Foto: Claudius Stein)

05.03.2021

Der „Böbel“ und sein Aberglaube

Frühzeit der Volkskunde in Bayern: Die „Reliquien“-Sammlung des Joseph Arbogast Erkinger von Seinsheim

Schloss Sünching im Landkreis Regensburg stellt nicht nur in kunsthistorischer Hinsicht eine Kostbarkeit dar (siehe „Außergewöhnliche Ensemblepflege“ in Unser Bayern, Ausgabe November/ Dezember 2020). Auch in kultur- und geistesgeschichtlicher Hinsicht hat der ehemalige Hauptsitz der Grafen Seinsheim einiges zu bieten. Dies gilt in erster Linie für die sogenannte Obere Bibliothek. Bei ihr handelt es sich nicht nur um eine Büchersammlung mit einem auffallend hohen Anteil an Landkarten, sondern auch um ein Kabinett mit Waffen, Münzen, Naturalien (darunter eine Holzbibliothek) und allerlei Kuriositäten. Ins Auge sticht vor allem auch die in einer zweiflügeligen Vitrine ausgebreitete Sammlung mit Objekten zur religiösen Volkskunde. Nähere Angaben zu dieser Sammlung gibt es bisher nicht, aber die meisten Objekte sind mit handschriftlichen Etiketten versehen. Diese Beschriftungen wiederholen sich in ausführlicherer Form in einem Inventar, das im Sünchinger Archiv verwahrt wird. Dieses Inventar spricht, allzu generalisierend, immer von „Reliquien“. Es dürften, die Andachtsgrafik eingerechnet, etwa 250 Stücke sein. Die Jahreszahl 1796 auf der Rückseite eines dieser Zettel verweist auf den ungefähren Entstehungszeitraum.

Aufklärerische Intention

Aufgrund eines Handschriftenvergleichs kann der Großteil der Sammlung dem Grafen Joseph Arbogast Erkinger von Seinsheim (1775 bis 1830) zugewiesen werden, wohingegen ein gutes Dutzend Stücke auf den Sammeleifer des Geistlichen Franz Ignaz Dafinger (1747 bis 1806) zurückgeht. Dafinger wirkte als Pfarrer in Rappoltskirchen – in der Nähe des Seinsheimschen Musterguts Grünbach – und war bereits als junger Mann von den Grafen gefördert worden. Beide Bestände umklammert die vom Gedankengut der Aufklärung gespeiste Intention, Aberglauben belegendes Material zusammenzutragen – Material im Übrigen, das vor nicht einmal einem Menschenalter bei den in Italien studierenden Grafen Seinsheim als ernst zu nehmendes Mitbringsel galt, etwa von der Casa Santa in Loretto.

Bei einer Untersuchung der von Joseph Arbogast Erkinger von Seinsheim zusammengestellten Objekte ist ein Profil des Grafen in geistesgeschichtlicher Hinsicht dienlich. Hilfreich dabei sind insbesondere der umfangreiche Nachlass im Sünchinger Archiv und dessen Büchersammlung in der Oberen Bibliothek. Man wird den Sohn des Grafen Maximilian Joseph Clemens von Seinsheim, der als Präsident des Geistlichen Rats 1802/03 die Säkularisation der bayerischen Klöster durchführte, ohne weiteres der radikalen Spielart der Aufklärung zurechnen dürfen, wie sie im neuen Bayern von Kurfürst Maximilian IV. Joseph und Minister Maximilian Joseph von Montgelas anzutreffen war, denn er unterstützte tatkräftig deren Reformprogramm, vor allem im landwirtschaftlichen Bereich.

Wesentliche Prägung erfuhren der junge Seinsheim sowie sein Begleiter und Erzieher Joseph Bruninger während ihrer Zeit an den Universitäten Würzburg, Marburg und Jena (1791 bis 1795). In diesen Jahren ist bei ihnen eine deutliche Nähe zu und spürbare Sympathie mit den revolutionären Ereignissen in Frankreich festzustellen. Zurückgekehrt nach Altbayern scheute sich der inzwischen zum Grünbacher Benefiziaten und Erdinger Oberschulinspektor avancierte Bruninger nicht, offen als Jakobiner aufzutreten mit dem Ziel, das Kurfürstentum zu revolutionieren. Der junge Seinsheim wandelte auf den Spuren seines Hofmeisters Bruninger, wie verschiedenen Stammbucheinträgen zu entnehmen ist: „Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte“ – „La mort ou la liberté.“ Zweifellos erheblichen Einfluss hatten die Vorlesungen des radikal-aufgeklärten Philosophieprofessors Johann Gottlieb Fichte in Jena auf die beiden Männer ausgeübt. Als während der Koalitionskriege die französischen Heere Süddeutschland durchzogen, änderten sie jedoch ihre Meinung und bekundeten, künftig keinen Franzosen mehr sehen zu wollen.

Die Sammlung des Grafen Seinsheim, der sich – was ein sehr bezeichnendes Licht auf seine Mentalität wirft – bereits als Kind einen „Raritätenkasten“ zugelegt hatte, klammert den Bereich des Wallfahrtswesens weitgehend aus, Votivgaben jeglicher Art fehlen daher fast völlig. Auch die aus einer Foliomappe mit etwa 150 teilweise großformatigen und handkolorierten Stücken bestehende Abteilung Andachtsgrafik enthält auch weniger Darstellungen von Gnadenbildern, sondern vielmehr auf bestimmte Heilige ausgerichtete, teilweise mit ausführlicher Gebrauchsanweisung versehene Gebetszettel sowie Segenssprüche. Seinsheim ging es um Gegenstände der Privatandacht, wie sie herkömmlich unter den Begriffen „Geistliche Hausapotheke“, „Devotionalien“ oder „Sakramentalien“ subsumiert werden. Ein besonderes Augenmerk richtete er auf den damals als ganz und gar abergläubisch betrachteten Bereich der Zauber und Segen.

Die folgende Aufzählung soll eine grobe Vorstellung von der Vielfältigkeit der Sammlung geben. Sie besteht beispielsweise aus drei großen Wettersegen, mehreren Bußgürteln aus Metall, einem härenen Bußgewand, hierzu passenden Geißeln, Schnur- und Papierrollen mit der „echten Länge“ von Jesus Christus und der Muttergottes, einem Loretto-Glöckchen sowie einem Loretto-Mäntelchen (womöglich die Souvenirs der Großelterngeneration), einem Fläschchen mit Walpurgis-Öl, einem geistlichen Kartenspiel, mehreren Fraishäubchen, einzelnen Berühr- oder Schleierbildchen, verschiedenen Breverln mit integrierten Andachtsbildern und miniaturisierten religiösen Symbolen sowie einigen barocken Gebetbüchern. Hinzu kommen Bruderschaftsutensilien wie Zingula, Rosenkränze und Skapuliere oder damit in Verbindung stehende Aufnahmezettel.

Belehrende Botschaften

Der heutige Eigentümer von Schloss Sünching, Johann Carl von Hoenning O’Carroll, erklärt bei seinen Führungen gerne drei Objekte, die in früheren Zeiten eine belehrende Botschaft vermittelten, aber auch heute noch zum Nachdenken anregen: Das Brot einer Bäckerin, das sie an einem Feiertag gebacken hat und das zur Strafe versteinert ist; das frevelhafterweise an einem Sonntag gespaltene Stück Holz, in dem das Kreuz Christi sichtbar wurde, und ein hölzernes Kreuz, dessen Längsbalken ein Stilett birgt – zur Selbstverteidigung der frommen Wallfahrer auf ihrem gefährlichen Weg, wie der Baron anmerkt.

Die im Herbst 2020 vorgenommene Erschließung dieser volkskundlichen Sammlung stützt sich in erster Linie auf die Beschriftungen: und zwar sowohl auf Objekte mit Beschriftungen als auch – was in etlichen Fällen zutrifft – auf Beschriftungen ohne dazugehörige Objekte. Eine nicht zu unterschätzende Zahl an Objekten ohne schriftlichen Kontext konnte nicht berücksichtigt werden, insbesondere aufgrund der für Nicht- Volkskundler erschwerten Identifizierung von solchen dekontextualisierten Stücken. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass bei einer genaueren Untersuchung Zusammenhänge zwischen Zetteln ohne Objekte und Objekten ohne Zettel hergestellt und möglicherweise noch mehr Objekte bestimmt werden können... (Claudius Stein)

Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in UNSER BAYERN, Ausgabe März/April 2021 (BSZ Nr. 9 vom 5. März 2021)

Abbildungen (alle von Claudius Stein):
Bußgürtel mit Metallspitzen und aus rauem Stoff mögen den Betrachter noch heute schaudern lassen. In dem Kreuz, das unten rechts in der
Ecke lehnt, ist ein Stilett verborgen.

„Ein Hemd vom Cristkindel zu Salzburg. Es ist hochgeweiht und wird den Kindern ins Bett gelegt, um selbe vor Krankheiten und bösen Leuten zu bewahren. Wenn man dies Hemd auf ein todtes Kind legt, so wird es lebendig.“

 

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