Unser Bayern

Der Vogelschau-Plan macht die imposanten Ausmaße der Wülzburg deutlich.Kopie nach Rochus Graf zu Lynar, um 1590. (Foto: Staatsarchiv Nürnberg)

27.07.2012

Frankens Pentagon

Die imposante Wülzburg über Weißenburg gehört zu den bedeutendsten europäischen Festungen

Man kann sich das gut vorstellen: Unterwegs von Nürnberg nach Augsburg taucht auf dem Bergsporn hoch über Weißenburg ein prachtstrotzendes Benediktinerkloster auf, ähnlich vielleicht dem stolzen Banz oder dem überquellenden Stift Melk – und nicht die trutzig geduckte Wülzburg. Es hätte so kommen können, denn über Jahrhunderte lebten Mönche dort oben. Niemand weiß, wann und woher sie kamen und wer ihnen die Mittel zur Gründung ihrer Niederlassung bereitstellte. Ende des 11 Jahrhunderts jedenfalls gab es das Klosters St. Peter und Paul. Das Verhältnis zwischen Benediktinern und Weißenburgern blieb allerdings frostig. Wie immer ging es ums Geld, Macht und Politik. Wohl auch um die laxe Lebensführung der Mönche, die sich um die Ordensregeln wenig scherten. Alle Reformbewegungen gingen am Kloster spurlos vorüber. Im Jahr 1395 ermordete der Prior den Abt mit einem Beil, ein herbeigerufener Bruder erschlug wiederum den Prior. Im Jahr 1451 eskalierte ein Streit mit den Weißenburgern derart, dass diese das Kloster plünderten und niederbrannten. Einer der Anführer, Konrad Ellinger, ist ein Urgroßvater mütterlicherseits von Albrecht Dürer. Anfang des 16. Jahrhunderts war die Abtei völlig heruntergekommen. Erneute Reformversuche scheiterten, nach der Umwandlung in ein Kollegiatstift heiratete der Abt und wurde Gastwirt. Während der Reformation kam es zur Auflösung des Stifts. Die Gebäude wurden mit dem Ausbau der Festung Wülzburg vollständig abgetragen. Matthias Merians Ansicht der „Vestung Wültzburg, wie solche Anno 1649 gestanden" zeigt noch den romanischen Kirchturm, der später ebenfalls fiel. Heute zeugt vom Kloster einzig der Grabstein des Abtes Wilhelm (gestorben 1449) in der Kapelle der Festung. Mittlerweile im Besitz der Markgrafen von Ansbach wurde der 630 Meter hohe Bergkegel zum Standort einer Landesfestung in der Südostecke des Herrschaftsbereichs bestimmt. Das Weißenburger Becken ist ein markanter Taleinschnitt in der Stirnseite der südlichen Frankenalb. Nach Norden weitet es sich zum Rezattal, nach Süden verengt es sich zur Treuchtlinger Pforte, wo Karl der Große die Flusssysteme von Rhein und Donau über einen Kanal zwischen Rezat und Altmühl zu verbinden suchte. Im Westen säumt der Hahnenkamm, im Osten der zerfurchte Albtrauf. Dort herrscht die Wülzburg über die ganze Gegend. In Weißenburg kreuzen sich uralte Handelswege: Eine auf einer römischen Fernstraße fußende West-Ost-Verbindung und der wichtige Verkehrsweg nach Süden entlang von Regnitz und Rednitz. Zudem war Karls Kanalprojekt, die „Fossa Carolina", nie in Vergessenheit geraten. Die Nürnberger Humanisten Conrad Celtis und Wilibald Pirckheimer berichteten darüber, genauso Bayerns Geschichtsschreiber Johannes Thurmair (Aventinus). Immer wieder gab es Überlegungen zur Fortführung des Projekts. Damit hätte die Wülzburg einen europäischen Handelsweg kontrollieren können. Entsprechend die Reaktionen, als Markgraf Georg Friedrich der Ältere (1556 bis 1603) im Jahr 1588 die fünf-eckige bastionäre Festungsanlage beginnen lässt. Die Argumentation der Kontrahenten klingt vertraut: Der Markgraf betont den rein defensiven Charakter seines Rüstungsprojekts – die militärisch schwächeren Gegner sehen darin einen Akt der Aggression und eine Angriffsstrategie. Dazu gehören die Reichsstadt Weißenburg und der Landkomtur des Deutschen Ordens im nahen Ellingen. Dort demonstriert noch im 18. Jahrhundert der Schlossneubau blankes Misstrauen: Kriegerisch blickt die Architektur in Richtung Wülzburg, mit barocken Eckpavillons wie Türmen und Hauben, die gleich Kriegshelmen darauf sitzen. Widerstand gegen das martialische Pentagon kommt ferner vom Eichstätter Bischof und dem Grafen von Pappenheim. Unbegründet sind die Befürchtungen nicht, denn der Markgraf hatte die Nachbarn wiederholt mit willkürlichen Übergriffen schikaniert. Außerdem gibt es das beunruhigende Protokoll eines Gesprächs am Bauplatz zwischen dem Markgrafen und einem Hauptmann, in dem es um die Frage ging, ob man mit einem Geschütz bis zum Ellinger Schloss schießen könne. Man prozessiert also vor dem Reichskammergericht, erwirkt tatsächlich gegen das Projekt eine Art einstweilige Verfügung, von der sich der Bauherr allerdings nicht beeindrucken lässt. Die juristische Auseinandersetzung zieht sich hin, der Bauherr schafft derweil Fakten. Auch das kommt einem bekannt vor. Im Juni 1588 sind 500 Arbeiter auf der Baustelle beschäftigt. Mit Weißenburg befindet man sich mittlerweile im Kalten Krieg: Die Reichsstadt verbietet ihren Bürgern bei Strafe, für den Markgrafen zu arbeiten. Weil sie nicht einmal Lebensmittel auf der Baustelle verkaufen dürfen, muss der Bauherr wohl oder übel einen eigenen Wochenmarkt organisieren. Feindschaft ist das eine, ein gutes Geschäft das andere: Ausgerechnet der katholische Deutsche Orden liefert aus seinen Brüchen die Steine für das feindliche Prestigeprojekt des Protestanten. Georgs „palazzo in fortezza", gedacht als südliches Pendant zur älteren Plassenburg in Kulmbach, atmet in Lage und Anspruch deutlich den Geist eines resoluten Absolutismus und den energischen Willen zur repräsentativen Machtdemonstration vor dem Hintergrund einer gewissen Selbstüberschätzung. Die Planung übernimmt Blasius Berwart der Ältere aus dem württembergischen Leonberg, der sich mit Schlossbauten einen Namen gemacht hatte. Er war an der Erweiterung der Plassenburg beteiligt und für den Umbau des Ansbacher Schlosses verantwortlich. Die Wülzburg plant er als pentagonale Festung nach italienischem Vorbild mit einem Umfang von knapp einem Kilometer. Vorbilder lieferten das Kastell von Turin und die Antwerpener Zitadelle von Francesco Paciotto aus Urbino. Bis 1610 entsteht eine Höhenfestung, die erstmals in Deutschland die modernsten Theorien der Befestigungskunst verwirklicht. Eine Festung kann anders als die mittelalterliche Burg einem Angriff mit Artillerie standhalten, selbst Artillerie einsetzen und eine zahlreiche Besatzung über längere Zeit versorgen. Außerdem dient die Wülzburg mit dem Schloss im Innenhof dem Hof als Zuflucht. Da Ansbach allerdings 60 Kilometer entfernt liegt, war das keine sonderlich praxistaugliche Idee. Gleichwohl ist dafür neben der Außenverteidigung auch die Verteidigung nach innen zu bedenken: Söldner ohne Entlohnung können zur Gefahr für den Dienstherrn werden. Die komplexe Anlage der Wülzburg blieb ohne Nachahmung und ist bis heute das einzige Beispiel für den Übergang von der Burg zur Stadtfestung. Das Credo moderner Architektur, „form follows function", ist darin konsequent umgesetzt. Grundriss und Profil sind so angelegt, dass die Kugeln der Angreifer ihr nichts anhaben und die Verteidiger mit Geschützen und Handfeuerwaffen den Außenbereich ohne tote Winkel vollständig abdecken können. Die Wülzburg gehört nicht nur zu den frühen neuzeitlichen Festungen um 1600, sie ist vor allem eine der ganz wenigen Bauten der Renaissance, die auf einem Berg neu errichtet wurden. Alle anderen Anlagen, die in Bayern bis ins 19. Jahrhundert entstanden, haben als Kern eine mittelalterliche Burg, die mit vorgelagerten Bastionen und Wallmauern der modernen Kriegstechnik angepasst wurden, wie die Festung Rosenberg über Kronach. Nach dem Tod von Blasius Berwart d. Ä. im Jahr 1589 entwickelt der im kurbrandenburgischen Dienst stehende Militärbaumeister Rocco Guerini Conte di Linari (dt. Graf zu Lynar) aus der Toskana das Festungskonzept weiter. Er verpasst den Bastionen aufwändige Flankenstellungen auf drei Ebenen, angelegt für je zwei Kanonen. Nach seinem Tod 1596 übernimmt Blasius Berwart d. J., der Sohn des ersten Baumeisters, die Bauleitung, muss aber Eingriffe des böhmischen Baumeisters Albrecht von Haberland in die Planung dulden. Er lässt die fertig gestellten Bastionen verändern, um sie widerstandsfähiger zu machen, die Flankenstellungen zumauern, die Kavaliere mit Erd-aufschüttungen verdecken. Auch das von Lynar vorgesehene Schlossprojekt schrumpft von fünf auf zwei Flügel entlang der Wallmauern. Obwohl die Festung auf dem neuesten Stand der Wehrtechnik war, hat sie – wie viele Rüstungsprojekte – ihren eigentlichen Zweck nie erfüllt. Dass der Bau letztendlich so sinnlos wie überflüssig war, erwies schon der Dreißigjährige Krieg: Die Markgrafenwitwe Sophie floh im Herbst 1631 auf die Wülzburg. Daraufhin zogen die Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly vor die Festung und erreichten eine kampflose Übergabe mit der Drohung, andernfalls in ansbachischen Städten „Einquartierungen" vorzunehmen. Im 17. Jahrhundert setzte sich generell die Erkenntnis durch, dass befestigte Städte effektiver als isolierte Militäranlagen sind. Was für eine Ironie der Geschichte, dass es zur einzigen Zerstörung der Wülzburg im Jahr 1634 nicht durch Beschuss, sondern durch ein Feuer in der Küche kam. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, wieder in ansbachischem Besitz, verlor die Festung ihre militärische Bedeutung, diente fortan als Kaserne und Staatsgefängnis. Zur Aufbesserung der markgräflichen Kasse wurden Häftlinge auf die Galeeren verkauft; in der Regel kam das einem Todesurteil gleich. Mit dem Ende der ansbachischen Linie der Hohenzollern im Jahr 1791 fiel die Markgrafschaft an Preußen. Napoleon erzwang 1806 die Abtretung der fränkischen Territorien an das Königreich Bayern. Weil die Festung Ingolstadt zerstört lag, richtete sich das Interesse noch einmal auf die Wülzburg. Die Wasserversorgung wurde verbessert, weil der „Tiefe Brunnen" im Westflügel des Schlosses – mit fast 150 Metern tatsächlich einer der tiefsten Mitteleuropas – für die Versorgung nicht genügte. Dazu entstand ein System von unterirdischen Regenwasserzisternen. Die klassizistische „Ludwigszisterne" im Innenhof war mit einem Fassungsvermögen von 1,35 Millionen Litern die größte und modernste Zisterne Bayerns. Die Kriegstechnik entwickelte sich im 19. Jahrhundert allerdings derart rasant, dass viele Festungen bedeutungslos wurden. Im Krieg von 1866 wurde die Wülzburg letztmalig in den Kriegszustand versetzt, ohne dass es zu Kriegshandlungen gekommen wäre. Zwar verfügte man über hochmoderne Geschütze, ihre Verschlüsse trafen allerdings erst ein, als der Frieden schon geschlossen war. Die Wülzburg wurde endgültig aufgegeben, ihr drohte ein Ende als Steinbruch. Ausgerechnet die Stadt Weißenburg verhinderte die Zerstörung, indem sie 1882 die sperrige Immobilie für 14 000 Reichsmark erwarb. Im Ersten Weltkrieg diente die Festung als Gefangenenlager; Charles de Gaulle war 1918 unter den Häftlingen. Die Wehrmacht übernahm die Festung 1939, machte sie mit Kriegsbeginn zum Internierungslager. Das „ILAG XIII Wülzburg" war kein KZ; der amerikanische „Catalogue of Camps and Prisons in Germany and Germany-Occupied Territories 1939 – 1945" listet es als „ziviles Internierungscamp" und „jüdisches Camp" auf. Die Häftlinge trugen Nummern, jene aus den westlichen Staaten zwischen 1939 und 1941 mussten keine Zwangsarbeit leisten. Das änderte sich für die Häftlinge mit sowjetischem Pass, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion interniert wurden. Betroffen waren sowjetische Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls in deutschen und annektierten Gebieten aufhielten.  Etwa 1000 Häftlinge sollen es im Frühjahr 1942 gewesen sein. Darunter befanden sich der bedeutende Komponist Erwin Schulhoff und sein Sohn Peter. Von den Zuständen im Lager bekommt man eine vage Ahnung, wenn man weiß, dass selbst die Toten noch wie Feinde behandelt wurden: Man entsorgte sie am historischen Abdeckplatz der Stadt. Nach 1945 entstand daraus ein angemessener Begräbnisplatz, der heute so genannte Russische Friedhof. Die Festung diente nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Durchgangslager für Flüchtlinge. Bis 1952 fanden dort tausende Vertriebene eine erste Bleibe. Später wurde daraus ein Altersheim. Seit 2002 befindet sich im Schloss eine Berufsfachschule für Altenpflege der Rummelsberger Anstalten. Die kleine Stadt Weißenburg bemüht sich seit den 1960er Jahren tapfer um die Instandsetzung der Wülzburg im Kampf gegen den Zahn der Zeit. Die Bastionen und Wallmauern hatten stark gelitten, Wasser drang ein, Wurzelwerk ließ Gewölbe bersten. Unterstützung für das als Denkmal von nationalem Rang eingestufte Projekt erhielt die Stadt vom Bund und vom Freistaat. Vor einigen Jahren spitzte sich die Situation dramatisch zu, als sich Bund und Land aus der Finanzierung verabschiedeten. Die Stadt erwog als letzten Ausweg sogar den kontrollierten Einsturz. Daraufhin kam Ende 2007 in München doch noch ein Fünfjahresprogramm mit über 4,38 Millionen Euro zu Stande. Damit konnten seit 2008 die dringendsten Sanierungen durchgeführt werden. In diesem Sommer wird das Projekt abgeschlossen. Anders als mittelalterliche Burgen, die mit der Romantik in verklärender Rückschau vom zugigen Gemäuer zum sentimentalen Ort umgedeutet wurden und deshalb als Ausflugsziele beliebt sind, erschließen sich martialische Kriegsbauten in ihrer erschlagenden Größe nicht unbedingt einem breiten Publikum. Die Wülzburg genießt längst nicht die Aufmerksamkeit, die ihr als europäisches Baudenkmal zukommt. Aber das Interesse wächst. (Rudolf Maria Bergmann)

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