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Wo ist der getötete Sisera abgeblieben? Die tugendhafte Heldin Jahel hält noch den schweren Hammer in der Hand, mit dem sie einen Pflock in den Schädel des Kanaaniter-Feldherrn geschlagen hat. Aber mit der anderen Hand präsentiert sie den bass Erstaunten und Erschrockenen um sich herum ihren schön glänzenden Hausrat. Geradezu lächerlich herabgewürdigt erscheint diese Interpretation ihrer Siegestat. Tatsächlich wurde das alttestamentarische Bildmotiv der Tapisserie im Senatssaal der Ludwig-Maximilians-Universität München nachträglich abgemildert: Die Szene schien zu grauselig und wurde herausgetrennt. Hier ein Ausschnitt des Wandteppichs, die Gesamtansich sehen Sie im Beitrag. (Foto: LMU/Christoph Olesinski)

23.03.2023

Wirkungsvolle Ablenkung

Alttestamentarische Mordszene auf einem Uni-Wandteppich: Wo ist die Leiche Siseras geblieben?

Zu den ehrwürdigen Gremien deutscher Universitäten gehört der Senat, der sich neben anderen Aufgaben mit der Berufung neuer Professorinnen und Professoren befasst. An der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) finden die Sitzungen dieser Institution im Schatten einer merkwürdigen Szenerie statt: Eine blondhaarige Dame in wallendem Gewand präsentiert mit offensichtlichem Stolz ein in einem Zelt aufgebautes Arrangement aus Vasen, Krügen und Schalen sowie einen am Boden liegenden Helm. Der Hausrat wird vervollständigt durch einen Hammer, den sie in ihrer rechten Hand hält. Die Betrachter, deren Aufmerksamkeit sie zu wecken sucht, sind neben einer mütterlich wirkenden weiteren Frauengestalt drei behelmte Herren in Kriegsgewand. Der erschrockene, beinahe entsetzte Gesichtsausdruck ihres durch einen Feldherrenstab gekennzeichneten Anführers ist angesichts der etwas banal erscheinenden Geschirransammlung allerdings schwer erklärlich und führt zur Frage: Was ist da los? Die Antwortsuche führt in die Bibel, ins belgische Brügge und zu einem Schloss im Allgäu.

Die geschilderte Szene bildet das Motiv eines 390 mal 360 Zentimeter großen Wandteppichs, der die Stirnseite des LMU-Senatssaals schmückt. Aufklärung bringen – zumindest für Lateinkundige – zwei Inschriften am oberen und unteren Bildrand: CONSILIUM DEBORAE / NOVA BELLA ELEGIT / DOMINUS Iud. V. / CONSILIO ET AR-MIS. „Der Ratschlag der Deborah. Der Herr will einen neuen Krieg (Buch der Richter, Kapitel 5) mit Planung und Waffen.“ Dieser Hinweis führt also ins Alte Testament, ins Buch der Richter.

Eine genauere Erläuterung bringt der Text unter dem Bild, ein Zitat aus der erwähnten Bibelstelle: BENEDICTA INTER / MULIERES IAHEL / SINISTRAM MISIT AD / CLAVUM ET DEXTRAM / AD FABRORUM MALEOS / PERCUSSITQUE SISARAM / Iud. V. „Gepriesen sei Jahel unter den Frauen. Ihre linke Hand streckte sie aus nach dem Pflock, ihre rechte nach dem Schmiedehammer und durchbohrte Sisera.“ Die Recherche im angegebenen Kapitel im Buch der Richter (schwerpunktmäßig allerdings schon im Kapitel 4) bringt dann eine ausführliche Schilderung der dargestellten Szene.

Die biblische Vorgeschichte

Die Kinder Israels leiden seit 20 Jahren unter der Bedrohung durch die Kanaaniter. Deren gefürchteter Feldherr ist Sisera. Mit 900 eisernen Wagen will er die Israeliten zermalmen. Barak, der Anführer der Israeliten, ist angesichts der Furcht einflößenden Situation zögerlich. Da redet ihm die Prophetin Deborah gut zu: „Geh hin und zieh auf den Berg Tabor und nimm 10.000 Mann mit!“ Sie, Deborah, wird mit ihm ziehen und ihrem Volk moralischen Beistand leisten. Zugleich gibt sie Barak noch eine Prophezeiung mit: „Der Ruhm wird nicht dein sein auf diesem Kriegszug, den du unternimmst, sondern der HERR wird Sisera in eines Weibes Hand geben.“ Barak ist überzeugt und zieht gegen Sisera los. Dieser ist angesichts der 10.000 Israeliten so schockiert, dass er von seinem Wagen springt und zu Fuß flieht.

In dieser Situation kommt Sisera, am Ende seiner Kräfte, zum Zelt Jahels. Diese bittet ihn herein: „Kehre ein, mein Herr, kehre ein bei mir und fürchte dich nicht!“ Das Angebot nimmt er gerne an. Das weitere, dramatische Geschehen berichtet das Alte Testament folgendermaßen: „Und er kehrte bei ihr ein in ihr Zelt und sie deckte ihn mit einer Decke zu. Er aber sprach zu ihr: Gib mir doch ein wenig Wasser zu trinken, denn ich habe Durst. Da öffnete sie den Schlauch mit Milch und gab ihm zu trinken und deckte ihn wieder zu. Und er sprach zu ihr: Tritt in die Tür des Zeltes und wenn einer kommt und fragt, ob jemand hier sei, so sprich: Niemand. Da nahm Jahel einen Pflock von dem Zelt und einen Hammer in ihre Hand und ging leise zu ihm hinein und schlug ihm den Pflock in die Schläfe, dass er in die Erde drang. Er aber war ermattet in einen tiefen Schlaf gesunken. So starb er.“
Nun betritt Barak auf der Suche nach dem flüchtigen Sisera den Ort des Geschehens. Es folgt die auf dem Wandteppich im Senatssaal der LMU abgebildete Szene: Jahel nimmt Barak in Empfang: „Komm her! Ich will dir den Mann zeigen, den du suchst.“ Barak kommt herein und sieht den toten Sisera mit dem Pflock in der Schläfe. Den spontanen Gesichtsausdruck des israelitischen Heerführers angesichts des Blutbads gibt der Wandteppich nachvollziehbar wieder.

Ein Detail aber wundert: Wo ist in der Darstellung der tote Sisera mit dem Pflock im Schädel? Offenbar muss man ihn jenseits des rechten Bildrands vermuten oder unter dem Tisch, verborgen hinter der Geschirransammlung und einem langen Tischtuch. Lediglich seinen Helm scheint er, vermutlich vor dem Schlafengehen, in der rechten unteren Ecke am Eingang des Zeltes abgelegt zu haben.

Von Brügge nach ganz Europa

Der Wandbehang – die fachlich korrekte Bezeichnung ist Tapisserie – entstand zwischen 1650 und 1670 in Brügge. Tapisserien waren damals groß in Mode, schließlich galt es, prachtvolle Schlösser zu dekorieren. Die flämische Region, insbesondere Brügge und Brüssel, war ein blühendes Zentrum der Herstellung von Tapisserien. Die Gilde der Tep-pichwirker existierte dort seit 1302, Tapisserien waren ein Exportschlager mit begeisterten Abnehmern in ganz Europa.

Bei der Wahl der Motive waren mehrteilige Zyklen besonders beliebt: etwa die Jahreszeiten, die Taten mythologischer Helden oder christliche Erzählungen. Auch der Wandteppich der LMU ist Teil einer solchen Serie, nämlich der „Allegorien der Tugenden, verkörpert durch Heldinnen des Alten Testaments“. Neben der Führungskraft Deborahs gehörten dazu die Klugheit der Abigail, die Weisheit der Königin von Saba, die Stärke Judiths, die Keuschheit der Susanna, das Wohlwollen Rebeccas und die Wohltat Esthers. Auffällig ist, dass die Tugend der Deborah das Thema der LMU-Tapisserie bildet, nicht die Ermordung Siseras durch Jahel. Damit würdigt das Kunstwerk die Entschlusskraft und das gute Zureden der De-borah, die den zögerlichen isrealitischen Anführer Barak dazu animiert, sich endlich aufzuraffen und gegen die Kanaaniter zu Felde zu ziehen.

Tapisserien brauchen eine spezielle Vorlage, sogenannte Kartons, die oft von bekannten Malern stammten und auf die technischen Möglichkeiten der Wirkerei abgestimmt waren. Die Gemälde unterlagen keinem Copyright und stellten eine Art Allgemeingut dar, das häufig kopiert wurde.  So handelt es sich bei der Keuschheit der Susanna aus der Serie um das exakte Spiegelbild eines Kupferstichs des Niederländers Lucas Vorsterman (1595 bis 1675), der diesen im Auftrag von Peter Paul Rubens nach dessen Gemälde Susanna im Bade anfertigte. War einmal eine gute Vorlage entwickelt, war es durchaus üblich, dasselbe Motiv gleich mehrmals zu wirken. Tapisserien waren wertvoller als Gemälde.

Die Tugend der Deborah lässt sich keinem ganz exakt gemaltem Vorbild zuordnen, es gab also wohl nur den Karton. Die Tötung Siseras durch Jahel ist um 1650 aber in zwei Typologien weit verbreitet: Zum einen gibt es die drastische Szene des Moments, in dem Jahel mit dem Hammer ausholt, um Sisera den Pflock in die Schläfe zu schlagen. Das berühmteste Gemälde dieses Typs, anschließend vielfach kopiert und variiert, stammt von der Malerin Artemisia Gentileschi (1593 bis 1654): Sie hat dem Sisera die Züge ihres Lehrers Agostino Tassi gegeben, der sie vergewaltigt und damit allgemeiner Schande ausgesetzt hatte.

Der Wandteppich im LMU-Senatssaal dagegen gehört zum zweiten Typus, der im Barock mit gewissen Variationen ebenfalls weit verbreitet war, dabei aber weniger schockierend wirkte und somit als allgemeinverträglicher angesehen werden kann: Die Tat ist bereits vollbracht, vor dem Hintergrund eines Zeltes präsentiert Jahel den israelitischen Anführern den Sachstand. Im Vergleich mit den zahlreichen Vorbildern fällt aber eines wiederum auf: Wo ist der getötete Sisera? In allen Darstellungen ist sein Leichnam zu sehen: der Kopf im Vordergrund, die Beine im hinteren Zeltbereich. Auf der Tapisserie der LMU dagegen: lediglich ein leerer Helm und jede Menge Vasen und Geschirr.

1987 wurden in der bedeutenden Ausstellung Brügge und die Tapisserie in Brügge beinahe alle Wandteppiche der Serie mit den sieben alttestamentarischen Heldinnen zusammengetragen. Eine Tugend aber fehlte: Deborahs Ratschlag. Diese Tapisserie konnten die Ausstellungsmacher nur in einer schlechten Schwarz-weiß-Fotografie im Ausstellungskatalog präsentieren. Das Original galt zu diesem Zeitpunkt als verschollen.

Sammlerstolz im Allgäu

Doch es befand sich seit 1954 im Senatssaal der LMU. Dorthin war die Tapisserie im Rahmen einer Schenkung gelangt, in deren Mittelpunkt Hermann Anschütz-Kaempfe stand. Dieser trug Züge eines Universalgelehrten, der sich als Förderer von Wissenschaft und Kunst große Verdienste erwarb: Der 1872 geborene, promovierte Kunsthistoriker interessierte sich in gleichem Maße auch für die naturwissenschaftliche Forschung. 1904 erfand er den Kreiselkompass, der im Unterschied zum Magnetkompass auch in eisernen U-Booten einsetzbar war. Mit dieser Erfindung verfolgte er ein äußerst ehrgeiziges Ziel: Im Unterseeboot und mit dem Kreiselkompass als Navigationsgerät wollte er bis zum Nordpol tauchen. Die Verwirklichung dieser Vision ist ihm zwar verwehrt geblieben, dafür brachte ihm die Erfindung so viel Geld ein, dass er seinen Leidenschaften frönen konnte: Mit Feuereifer und großem Sachverstand sammelte er Kunstgegenstände und förderte die naturwissenschaftliche Forschung. Beide Interessensgebiete vereinigte er unter einem Dach, indem er 1921 das Barockschloss Lautrach im Unterallgäu erwarb. Dort hatte er einerseits genügend Platz, um seine Kunstsammlung unterzubringen und zu erweitern, andererseits machte er das Anwesen zu einem Begegnungszentrum für Wissenschaftler und Künstler. Größen wie Albert Einstein, Olaf Gulbransson und Hans Knappertsbusch gehörten in den Folgejahren zu den namhaftesten Gästen. In diesen glanzvollen Jahren erwarb Hermann Anschütz-Kaempfe auch die Deborah-Tapisserie beim Frankfurter Kunsthändler Rudolf Bangel als Schmuck für Schloss Lautrach.

Schenkung mit Haken

Formal hatte Hermann Anschütz-Kaempfe das Schloss schon 1921 der Ludwig-Maximilians-Universität geschenkt. Nach seinem Tod im Jahr 1931 führte seine Frau Reta die Geschäfte weiter, bis der Zweite Weltkrieg und die anschließende Beschlagnahmung des Schlosses als Flüchtlingsunterkunft der Nutzung als Begegnungsstätte ein Ende machten. Als hätte Hermann Anschütz-Kaempfe schwierigere Zeiten nach seinem Tod vorausgesehen, war im Kleingedruckten der Schenkung an die Universität ein Rücktrittsrecht für den Fall vorgesehen, dass sich die finanziellen Verhältnisse des Schenkers oder seiner Frau wesentlich verschlechtern würden. Im Jahr 1958 war es so weit: Reta Anschütz-Kaempfe musste die Schenkung widerrufen und die Tage der LMU als Schlosseigentümerin waren beendet.

Als bemerkenswertes Überbleibsel der Schenkung blieb der Universität aber die Tapisserie aus Brügge, die schon 1954 im Rahmen des Wiederaufbaus des Universitätshauptgebäudes in den Senatssaal transferiert worden war. Ob sie dort immer mit dem gleichen Kunstverstand gewürdigt und behandelt wurde, mit der Hermann Anschütz-Kaempfe sie erworben hatte, bleibt fraglich. Die Rauchschwaden der vergangenen Jahrzehnte ließen die Tapisserie auch physisch in ähnliche Düsternis entschwinden, in der sich auch ihre Historie befand. Wer den Wandteppich berührte, musste sich anschließend die schwarzen Hände waschen. Erst 1990 warf ein Artikel im Münchner UniMagazin ein Blitzlicht auf die Tapisserie.

Ein Neuanstrich des Senatssaals in jüngerer Zeit führte dazu, dass der dunkle und zerschlissene Wandteppich abgehängt werden musste. Im Raum stand die Frage, ob er in diesem Zustand überhaupt wieder aufgehängt werden könne. Experten war der Wert der Tapisserie aber sehr wohl bewusst, sodass die LMU eine Restaurierung in Angriff nahm. (Sie dazu "Behutsam aufgefrischt")

Ein Toter wird aufgespürt

Die Münchner Tex-tilrestauratorin Gisela Trosbach konnte auch das Rätsel des Wandteppichs lösen: Wo ist Sisera? Bereits früher wurde die Vermutung aufgestellt, dass der Wandteppich nachträglich verändert worden war: Der Anblick des ermordeten Sisera wurde offenbar als so schockierend angesehen, dass sein Leichnam aus dem Teppich ausgeschnit-ten und durch eine Einwebung ersetzt wurde. 1990 ging der erwähnte Beitrag im Münchner UniMagazin davon aus, dass statt des toten Körpers der leere Helm des Kriegsherrn als eine Art Trophäe eingeflickt worden sei.

Klarheit verschafft eine kleine Sensation: Der Wandteppich aus dem Senatssaal hat einen Zwilling in Sevilla, auf den Gisela Trosbach im Rahmen ihrer Recherchen gestoßen ist. Wie erwähnt war es ja durchaus üblich, auf der Grundlage einer guten Vorlage gleich mehrere Tapisserien zu weben. Auf dem spanischen Doppelgänger ist die Szene in ihrer ursprünglichen Gestalt zu sehen: Jahel weist auf den am Boden hingestreckten Leichnam Siseras, sein Helm liegt daneben. In die Münchner Tapisserie ist nicht der Helm neu eingewebt worden, sondern das Arrangement von Vasen und Schalen, das Jahel scheinbar stolz präsentiert.

Diese Besonderheit mag zwar erheblich zur Verunklarung der dargestellten Szene führen, zugleich macht sie die Tapisserie der LMU aber über ihren kunsthistorischen Wert hinaus zu einem bemerkenswerten Kuriosum. (Matthias Fahrmeir)

Siehe dazu "Behutsam aufgefrischt. Wie Restauratorin Gisela Trosbach die historische Tapisserie aus dem LMU-Senatssaal fit macht für die Zukunft" in UNSER BAYERN Ausgabe März/april 2023)

Abbildungen:
Die Tapisserie aus dem Senatssaal der Ludwig-Maximilians-Universität München: Jahel deutet auf Geschirr. Anders in der Zwillingsversion des Wandbehangs im spanischen Sevilla. Von ihr erfuhr die Münchner Restauratorin Gisela Trosbach im Gespräch mit Guy Delmarcel, einem international bekannten Spezialisten für flämische Tapisserien. In der Tapisserie in Sevilla weist Jahel auf den toten Sisera samt Pflock im Haupt. (Fotos: LMU/Christoph Olesinski, Archiv)

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