Wirtschaft

Akten sprechen oft Bände über Firmengeschichten – viele Fotografien lassen sie auch optisch lebendig werden. Hier die Fassabfüllung im Lagerkeller der Münchner Löwenbrauerei (1900). (Foto: BWA)

04.10.2024

Abenteuerliche Rettungsmissionen

Das Bayerische Wirtschaftsarchiv feiert sein 30-jähriges Bestehen mit einer Ausstellung, die zeigt, was alles in ihm steckt

Man soll die Feste feiern, wie sie fallen – und muss nicht erst auf ein Hundertjähriges damit warten. Auch 30 Jahre sind recht ordentlich – so alt ist heuer das Bayerische Wirtschaftsarchiv (BWA). Und das nutzt die Gelegenheit: Sein Jubiläum feiert es mit einer Ausstellung im Hauptgebäude der IHK für München und Oberbayern in der Münchner Innenstadt. Charmant an dieser Ausstellung ist, dass sich das Archiv mit seinem vierköpfigen Team für sein oft mühseliges Tun nicht etwa selbst auf die Schultern klopft – nein, es bleibt dezent im Hintergrund und überlässt die Jubiläumsbühne seinen Schätzen.

Prassen ist out

Raffiniert ohnehin: Man hat Archivalien herausgesucht, die sich just ums Feiern drehen. Und angesichts dessen, was man auf Fotografien von Firmenevents ausgebreitet sieht, mag man dieser eigenen Archivfeier glatt das Label „Understatement“ verpassen. Aber die Zeiten haben sich geändert: Heute ist es weniger (oder nicht nur) der Geiz der Chefetage, dass „Saus und Braus“ out sind. Vor allem das Steuerrecht vermiest üppige Feiern. Ebenso Social Media, wie Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern, im Interview mit der Bayerischen Staatszeitung für das digitale BSZ-Magazin Unser Bayern erklärt (siehe Unser Bayern, Ausgabe September/Oktober. www.bayerische- staatszeitung.de): Es gehört sich einfach nicht mehr, den Anschein des Prassens zu vermitteln.

Ganz das Gegenteil scheint früher zelebriert worden zu sein: Manche Firma hatte bewusst zur Schau gestellt, was sie sich leisten konnte, auch, wie gut sie zu ihrer Belegschaft ist. Diese Form der Außendarstellung ist nur ein Aspekt, den man aus dem hoch spannenden Thema Firmen feiern, wie die Ausstellung überschrieben ist, herauslesen kann. Es ist ein Thema, das die Wirtschaftsgeschichte mit ihren vielfältigen Facetten tangiert. Den verschiedensten Forschungsdisziplinen bieten sich dazu Ansätze im BWA – dessen Leiter Richard Winkler erwartet deshalb künftig auch entsprechende Anfragen. Noch – denn vielleicht stößt ja gerade diese Schau die Neugier an?

Exquisit getafelt

Gansleber Parfait, Schildkrötensuppe (eine „echte“, wie auf der Speisekarte vermerkt wurde), Rheinsalm, kalte Pökelzunge, Vierländer Stubbenente, schließlich Feingebäck und als Krönung eine „Jubiläumsbombe“ – selbstredend, dass ausgesuchte Weine zu den Gängen gereicht wurden: Wow! Was die Bamberger Mälzerei Weyermann zu ihrem 50-jährigen Bestehen auftischte, ließ die Zungen schnalzen. Und das am Vorabend des großen Börsenkrachs vom 29. Oktober 1929, der schon in der Luft lag. Aber am 5. Oktober ließ es Weyermann noch mal so richtig krachen. War das einzige Problem bei diesem Jubiläumsessen tatsächlich, dass es an einem Freitag stattfand, an dem damals noch der Fleischverzicht üblich war – vor allem im streng katholischen „fränkischen Rom“ und unter den Augen des Erzbischofs? Aber vielleicht war dieser ja auch unter den Ehrengästen? Man holte jedenfalls den „Dispens vom Freitagsgebot“ ein, wurde beruhigend auf der Speisekarte vermerkt.

Es ist anzunehmen, dass bei diesem exquisiten Dinner nicht die ganze Arbeiterschaft der noch heute existierenden Mälzerei eingeladen war. Anders sah das bei Pfanni in München aus: Der Fertigknödel-König feierte am 26. Oktober 1956 den Rohbau der neuen Fabrikanlage hinterm Ostbahnhof (heutiges Werksviertel), und zwar mit einem Essen im nicht allzu weit entfernten (längst abgerissenen) Franziskanerkeller: Eingeladen war nicht nur die Pfanni-Belegschaft (über 500), sondern auch alle an den Baugewerken Beteiligten.

Kaviar und Co wurden dort nicht aufgetischt, vielmehr gab es Schweinsbraten – natürlich mit Pfanni-Knödel. Die Einladungskarte enthielt einen Bogen mit abtrennbaren Gutscheinen: für einen Braten inklusive Leberknödelsuppe, Salat und Käse, einen Gutschein für drei Brezen oder Semmeln, dann noch 2 Bons für je einen Liter Bier oder einen Schoppen Wein, obendrein einen für ein Glas Likör oder Weinbrand an der Bar, und zu guter Letzt durfte man sich noch Rauchwaren für 2 D-Mark aussuchen.

Derartige einmalige Feiern ließ man sich einiges kosten. Sie stellten stets auch etwas Herausragendes für die Beschäftigten dar, von denen sich manche derlei privat nicht leisten konnten. Ihr Dank war der Chefetage sicher: Solche Feiern binden die Belegschaft an „ihr“ Unternehmen und motivieren die Einsatzbereitschaft.

Die geteilte Maß

Der soziale Aspekt bestimmt auch Betriebsausflüge. In der BWA-Ausstellung sieht man beispielsweise Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Coburger Korsettfabrik Escora im Oktober 1956 vor Schloss Herrenchiemsee zum Foto versammelt. Daneben der zweiseitige Programmzettel dieses sogar zweitägigen Betriebsausflugs mit über 200 Beschäftigten. Transport, Übernachtungen („in guten, sauberen Privatquartieren“) und Essen waren frei, für die Getränke musste man selbst aufkommen – allerdings bekam jeder dafür 2,50 D-Mark in bar auf die Hand. Wer damit haushaltete und das Geld nicht schon für Kaffee bei der Chiemsee-Dampferfahrt ausgegeben hatte, konnte davon auch noch den Aufpreis fürs Bier auf der Wiesn schmälern: Aufs Oktoberfest ging der Ausflug nämlich auch noch, allerdings gab es fürs Winzerer Fähndl nur einen Gutschein für einen halben Liter Bier. Weil dort aber nicht Halbliterkrüge verteilt wurden, mussten sich zwei Kolleg*innen eine Maß teilen oder eben aus eigener Tasche draufzahlen.

Der Coburger Dessousspezialist existiert nicht mehr – wie so viele andere Firmen, denen man neben noch immer bestehenden Schwergewichten der bayerischen Wirtschaft wie dem Walchenseekraftwerk (heuer 100 Jahre) in der Ausstellung begegnet. Aber man kann sie gleichsam aus ihrem Dornröschenschlaf im Bayerischen Wirtschaftsarchiv erwecken – wie mit dieser Schau, die zeigt, dass nicht nur Bilanzen voller Zahlenkolonnen im Archiv gehütet werden, die wiederum auch höchst Spannendes verraten, wenn man sie zu lesen versteht. „Das Archiv steckt voller Geschichten, voll Überraschendem, Dramatischem und Schönem. Gerade bei dieser Ausstellung sieht man, wie durch Archivalien Bayerns Wirtschaft lebendig werden kann“, schwärmt Manfred Gößl.

Nachschlagen im Findbuch

Rund 6000 Fachbodenmeter sind bislang im Wirtschaftsarchiv an der Münchner Orleansstraße belegt, gut dreiviertel davon sind optimal erschlossen. „Auch beim noch ausstehenden Viertel herrscht nicht etwa Kraut und Rüben“, versichert Archivleiter Winkler, „man muss halt nur ein wenig länger suchen, als wenn man schon ein Findbuch dazu hätte.“

In der Bestandsübersicht, die man auf der Homepage des BWA abrufen kann, ist leicht ersichtlich, wozu es bereits Findbücher gibt. Wie zum Beispiel für den Bestand des Münchner Oldenbourg-Verlags – aus diesem hat das BWA für die Ausstellung den Programmzettel für eines der jährlich stattfindenden Sommerfeste herausgefischt: 1894 eröffnete der Verlagschef selbst eine Polonaise, „zu welcher die Damen mit Blumensträußchen bedacht werden“. Auch das ein Beispiel für einen besonderen soziologischen Aspekt von Firmenfeiern: Man sah den Chef einmal nicht nur aus der Ferne, sondern begegnete ihm relativ zwanglos und konnte mitunter mit ihm plaudern.

Auch wer die Geschichte der erst in jüngerer Zeit durch den mehrheitlichen Verkauf an einen chinesischen Konzern in die Schlagzeilen geratenen Kuka AG in Augsburg recherchieren möchte, muss nicht alle 2214 Archiveinheiten selbst in die Hand nehmen – der Blick ins Findbuch spart Zeit. Ein solches ist für kleinere Bestände schnell angelegt, wie jenes für die Coburger Mieder- und Bademodenfabrik Escora, von der nur 29 Einheiten erhalten sind: „Das sind vor allem nur noch Fotos und Prospekte, aber wenn wir die nicht hätten, würde vermutlich so gut wie nichts mehr an diese einmal bedeutende Firma erinnern“, sagt Richard Winkler.

Standorttreue Brauereien

Aber dann gibt es einen Brocken auf 200 Meter Regalböden, der im Findbuch 10.100 Archiveinheiten umfasst. Dabei handelt es sich um die Unterlagen (1871 bis 1987) der Münchner Löwenbräu AG – dieses Konvolut war die erste Übernahme des 1986 gegründeten Wirtschaftsarchivs der IHK für München und Oberbayern, das vor 30 Jahren unter Beteiligung aller bayerischen IHKs als Bayerisches Wirtschaftsarchiv mit Zuständigkeit für den gesamten Freistaat erweitert wurde.

Weitere Bestände zu Bier in Bayern kamen in den vergangenen Jahrzehnten hinzu, man stößt beispielsweise auch auf die Firmenunterlagen der Paulaner Brauerei und des Spaten-Franziskaner-Bräu, von Hacker, von Pschorr oder des Coburger Hofbräu. Jüngster Zugang sind die Unterlagen der 1886 gegründeten Memminger Brauerei, deren Insolvenz (2023) sich noch in der Abwicklung befindet.

Dass sich gerade zu Brauereien umfangreiche Unterlagen erhalten haben (bei Paulaner gehen sie zurück bis 1798), liege vor allem daran, sagt Richard Winkler, dass sie einerseits viel Platz hatten und zum anderen über lange Zeit am gleichen Standort blieben. „Was man nicht mehr brauchte, wurde schlicht in irgendwelche Keller oder Speicher verschoben.“
Abenteuerlicher Einsatz

Schnell bei der Hand ist man dagegen bei Firmenumzügen, gar erst bei Insolvenzen: Es wird rigoros containerweise entsorgt. Das BWA-Team versucht in diesen Fällen, so schnell wie möglich vor Ort zu sein – „nur telefonieren reicht nicht“, weiß Richard Winkler, der 1994 zum BWA stieß und es seit 2023 leitet. Natürlich mit Genehmigung der (Noch-)Eigentümer oder der Insolvenzverwalter „durchforsten wir jeden Winkel der Firmenareale. Da kommen wir uns oft schon wie Archäologen bei einem abenteuerlichen Einsatz vor.“

Man suche vor allem auch nach Leuten wie Hausmeistern, die mitunter noch Ideen haben, wo etwas zu finden sein könnte. Winkler erinnert an die Übernahme von Unterlagen der Hanfwerke Füssen (1861 bis 2009): „Beim Gang durch den riesigen Komplex führte mich ein Mann in einem großen Saal zu einem unscheinbaren Verlies mit Eisentür. Nach dem Aufsperren stand ich vor einem Regal mit Geschäftsbüchern seit 1861. Nur die Bände der untersten Reihe waren kaputt durch einen Wasserschaden. Da war einmal der Lech über die Ufer getreten.“

Scharf auf „graue Akten“

Immer öfter begegnet das Wirtschaftsarchiv bei solchen Firmenstilllegungen der Konkurrenz – eine gerne akzeptierte, was das Archiv-Ethos angeht: Stadtarchive und Stadtmuseen interessieren sich zunehmend auch für die regionale Wirtschaftsgeschichte. „Aber graue Aktenware, die man nicht ausstellen kann, bleibt nicht selten unbeachtet. Und genau die ist wichtig fürs BWA.“ Richard Winkler erinnert an das Quelle-Versandhaus: Dessen „Hinterlassenschaften“ seien zwar ein Muss für die örtlichen Archive und Museen gewesen – „aber wir haben neben anderem noch einen Satz der legendären Quelle-Kataloge gerettet. Die sind ein höchst aussagekräftiger Spiegel der Konsumgeschichte.“

Größere Traditionsunternehmen unterhalten oft eigene Archive – nicht so aber die Masse der Firmen oder Wirtschaftsverbände. Und da wirbt das BWA intensiv: als Dienstleister, der sich um Archivwürdiges kümmert – unentgeltlich, denn das Archiv ist ja eine Einrichtung der Industrie- und Handelskammern, wird von ihnen getragen.

Werben als Dienstleister

Das BWA-Team muss aber unablässig Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten: Eine automatische Pflichtabgabe wie bei staatlichen Stellen gibt es nicht. Nur die Industrie- und Handelskammern sind als Körperschaften des öffentlichen Rechtes tatsächlich archivierungspflichtig. Und deren Konvolut bildet neben Beständen beispielsweise von Energieversorgern, Banken und Sparkassen, aus der Textilbranche und dem Kunsthandel einen Schwerpunkt im BWA und ist von immensem Wert: Selbst auf Firmen, deren Unterlagen nicht abgegeben wurden oder die ohnehin vom Markt verschwunden sind, kann man in diesen IHK-Akten stoßen – und sie quasi reanimieren.
(Karin Dütsch)

Die Ausstellung Firmen feiern vom 11. Oktober bis 7. November in der IHK für München und Oberbayern, Max-Joseph-Straße 2, 80333 München.
Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Orleansstraße 10-12, 81669 München. https://wirtschaftsarchiv.bihk.de
Es erscheint ein Ausstellungskatalog.

 

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