Wirtschaft

Deutschlands Exporte laufen nicht mehr so rund wie in den letzten Jahren. (Foto: dpa/Daniel Bockwoldt)

11.10.2024

"Deutschland braucht eine Generalsanierung"

Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags, über die Rezession hierzulande und nötige Gegenmaßnahmen

Während die Bundesregierung vor einigen Monaten noch ein Wachstum der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent in diesem Jahr prognostiziert hatte, dürfte es laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein Minus von 0,2 Prozent geben. Erst 2025 soll es ihm zufolge mit 1,1 Prozent wieder ein Wachstum geben.

BSZ: Wie bewerten Sie es, dass nach langem Zögern nun auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck den längst von den führenden deutschen Wirtschaftsinstituten prognostizierten Wachstumsrückgang offiziell zugibt?
Manfred Gößl: Es ist überfällig, dass die objektiv schlechte wirtschaftliche Lage endlich auch vom Bundeswirtschaftsminister adressiert wird. Entscheidend wäre freilich, dass die Bundesregierung das gemeinsame Einsehen und die Kraft für die notwendige wirtschaftspolitische Kehrtwende aufbringen würde.

BSZ: Warum versucht das Bundeswirtschaftsministerium Ihrer Meinung nach immer wieder, die Lage rosiger darzustellen, als sie ist?
Gößl: Da fragen Sie den Bundeswirtschaftsminister am besten selbst. Da noch jede Prognose aus dem Bundeswirtschaftsministerium zu positiv war, liegt die Vermutung nahe, dass „rosige“ Botschaften politisch vorgegeben waren und deshalb der Öffentlichkeit nur das beste Szenario als das realistische verkauft wurde. Es ist auch nicht falsch, Dinge mit Optimismus anzugehen. Aber die ehrliche Analyse der Lage wurde bislang regelrecht verweigert. Und das ist ein grundlegender Fehler, politisch wie moralisch. Ich erinnere an die Ruck-Rede von Roman Herzog von 1997 und seine dortige Aufforderung: „Wer – wo auch immer – führt, muss den Menschen, die ihm anvertraut sind, reinen Wein einschenken, auch wenn das unangehm ist.“

BSZ: Auch wenn es schon tausend Mal von verschiedenster Seite publiziert wurde: Was ist jetzt politisch dringend nötig, damit Deutschland aus der Rezession kommt?
Gößl: Schenken wir also „reinen Wein“ ein: Deutschland hatte seit den 1980er-Jahren jahrzehntelang Rückenwind durch ein hohes Angebot qualifizierter Arbeitskräfte, eine günstige Energieversorgung vor allem mit Pipeline-Gas, den sicherheitspolitischen Vollkaskoschutz durch die USA, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung, den Siegeszeug von Freihandel und Globalisierung mit neuen Märkten für unsere starke Exportwirtschaft in Europa und in der Welt, insbesondere China. Der Wind hat sich nach der Lehmann-Krise 2008 erst langsam, dann immer eindeutiger gedreht.

BSZ: Das heißt?
Gößl: Jetzt herrscht heftiger Gegenwind, und zwar in allen genannten Punkten und wohl für lange Zeit, nämlich: Arbeitskräftemangel mit schnell steigenden sozialen Sicherungskosten für die älteren Jahrgänge, höhere Energiekosten als die meisten Wettbewerber, Protektionismus und Blockbildung, Selbstverantwortung in der Verteidigung mit Ressourcenbindung in Höhe von bis zu 3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dazu kommt ein selbstgemachter Bürokratie-Tsunami aus Brüssel und Berlin, die fehlende Vollendung des EU-Binnenmarkts vor allem im Kapital- und Dienstleistungssektor, eine ineffektive und ineffiziente Energie- und Klimaschutzpolitik sowie obendrein auch noch die Rückabwicklung der überaus erfolgreichen „Agenda 2010“ unter Kanzler Gerhard Schröder. In Summe sinkt das jährliche Wachstumspotenzial von durchschnittlich 1,4 Prozent zwischen 2000 und 2019 auf rund ein halbes Prozent bis Anfang der 2030er-Jahre und es wird wahrscheinlich auch bis 2040 noch unter einem Prozent liegen. Dies würde dann fundamentale Einschnitte in den gewohnten Wohlstand bedeuten.

BSZ: Das war die Analyse. Was ist zu tun?
Gößl: Die wissenschaftlich belegte Therapie lautet: Das Wachstumspotenzial kann nur durch mehr Investitionen, mehr Arbeitsvolumen und mehr Produktivität angehoben werden. Alle Maßnahmen müssen ab sofort darauf einzahlen. Das bedeutet zum Beispiel: Rückkehr von Verlässlichkeit in der Wirtschaftspolitik, niedrigere Unternehmensbesteuerung, dauerhaft verbesserte Abschreibungen und Verlustverrechnung, Arbeitsanreize für Frauen und Rentner bei Steuern und Abgaben, bessere Betreuungsangebote, die Aktivierung von Arbeitslosen und Bürgergeldempfängern für den Arbeitsmarkt, längere Lebensarbeitszeit bei längerer Lebenserwartung, qualifizierte Zuwanderung, radikaler Abbau von Bürokratie, Offensive für Digitalisierung sowie KI-Nutzung und Automatisierung, bessere Förderung für Forschung und Entwicklung und Innovationen sowie Bildung, Bildung, Bildung. Dieses Maßnahmenbündel ist mit vielen Zumutungen verbunden.

BSZ: Und wenn sich die Politik davor drückt?
Gößl: Klar ist: Fehlt der politische Reformmut zu einer Generalsanierung des Wirtschaftsstandorts, werden die Zumutungen für die ganze Gesellschaft in Form von Wohlstandsverlusten noch höher sein und womöglich sogar unsere Gesellschaftsordnung als Ganzes gefährden.
(Interview: Ralph Schweinfurth)

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