In den Betrieben wird gerne eine kleine Geschichte erzählt: Wer waren die ersten Gewerkschaftsfunktionäre? Die Heiligen Drei Könige. Denn ihnen ging ein Stern auf, sie legten die Arbeit nieder, hüllten sich in Purpur und eilten zur Krippe. So launig geht es in der Arbeitnehmerorganisation seit geraumer Zeit nicht mehr zu. Der Deutsche Gewerkschaftsbund mit seinen Untergliederungen verlor in den Jahren von 1990 bis heute fünf Millionen Mitglieder; der Bestand schrumpfte von elf auf heute sechs Millionen. Zudem muss man auch noch mit einer gern verschwiegenen Dunkelziffer rechnen. Schätzungsweise werden heute noch knapp eine Million Rentner als Beitragszahler mitgerechnet. Lediglich in den Branchen, die in ihrer Entwicklung gefährdetet sind, wie etwa der Autoindustrie, die in China neue Produktionsstätten aufbaut, gibt es noch eine Verankerung. Seit jeher entziehen sich Angestellte und mittlerweile prekär Beschäftigte einer Mitgliedschaft. Die einzig nennenswerte Kraft stellt nur noch die IG Metall dar, die über größere finanzielle Rücklagen verfügt.
Lebensberechtigung verloren
Der Mitgliederschwund, der dramatischer ist als die Austrittswelle in den Kirchen, hinterließ in den Kassen große Löcher. Stellen auch beim DGB-Landesbezirk wurden nicht mehr besetzt. Mit der Gründung der Dachgewerkschaft Verdi verloren kleinere Organisationen ihre Lebensberechtigung. So gelingt es nur noch selten, Einkommensverbesserungen zu erzielen, die dem tatsächlichen Zuwachs der Produktivität entsprechen. Man darf gespannt sein, welche Gehaltssteigerungen auf die Inflation folgen, die insbesondere die Arbeitnehmer*innen hart trifft. In der öffentlichen Diskussion, die für eine Mitgliederorganisation so wichtig wäre, findet der DGB kaum mehr statt.
Bei einem Blick zurück wird der Bedeutungsverlust offensichtlich: So setzten die Gewerkschaften in den 1970er-Jahren noch durch, dass in Großunternehmen die Hälfte der Aufsichtsräte paritätisch besetzt wurden. Nach langem Ringen, und um ein Patt auszuschließen, erhielt der von Arbeitgeberseite benannte Vorsitzende ein zweites Stimmrecht. Diese Mitbestimmung wurde freilich öffentlich wenig beachtet, auch in den Medien nicht. So fand in der Berichterstattung – man denke nur an die Landesbank – selten Erwähnung, dass bei allen Entscheidungen in Großkonzernen die Gewerkschaftsvertreter ein machtvolles Wort hätten mitreden können.
Neben der Mitbestimmung, einer ehedem glaubensmäßigen Forderung, hat man auch die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand als Ziel vergessen. Bei den Tarifverhandlungen – und das wissen auch ihre Kontraparts – fehlt die Kraft. Offenkundig verfügt jetzt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) über eine Lufthoheit bei der Lohnfindung und hat vorab schon versprochen, dass die Löhne steigen werden. Früher hätte eine derartige Ankündigung einen deutschlandweiten Proteststurm ausgelöst. Kein Wirtschaftsminister durfte sich vordem in Gehaltsverhandlungen einmischen.
Zwei hochgradige Bewerberinnen
Den Zustand der Gewerkschaften verdeutlichen zwei Personalentscheidungen: Bei allem Respekt und aller aufrichtigen Anerkennung verdeutlichen sie den tatsächlichen Zustand der Arbeitnehmerorganisationen. Als Nachfolgerin für den amtierenden DGB-Chef Reiner Hoffmann soll im Mai die SPD-Politikerin Yasmin Fahimi gewählt werden. Den traditionsreichen Posten bei der Nürnberger Bundesagentur, den über die Jahre hinweg ein DGB-Vertreter aus den CDU-Sozialausschüssen innehatte, wird nun als Kandidatin Andrea Nahles vorgeschlagen. Zweifellos zwei hochgradige Bewerberinnen: Beide waren Generalsekretärinnen der SPD. Doch man kann ihnen kaum nachsagen, sie hätten einen besonderen „Stallgeruch“ als Gewerkschafterinnen. Hat denn der DGB keine Frauen mehr, die sich hautnah mit den Problemen ihrer Mitglieder beschäftigt haben? Nicht einmal die Tatsache, dass nach den jüngsten vorliegenden Meinungsumfragen knapp die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder bei den Wahlen ihr Kreuz bei den Unionsparteien machten, wurde berücksichtigt. Von der nach dem Zweiten Weltkrieg hochgehaltenen Einheitsgewerkschaft, die außerhalb Bayerns alle politischen Richtungen umfasste, bleibt nichts mehr übrig. Und in der IT-Welt sieht ihre Zukunft eher düster aus.
(Karl Jörg Wohlhüter)
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