Bauen

Fast jeder kennt Studenten, die ein Auslandssemester gemacht, aber im Anschluss keine Lehrveranstaltung anerkannt bekommen haben. Um das Reform-Ziel der gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen zu erreichen, müssten jedoch wesentliche Lehrveranstaltungen harmonisiert werden. Doch das Gegenteil ist bisher der Fall. (Foto: Sebastian Bernhard/pixelio.de)

29.05.2015

Die Bologna-Reform ist längst nicht abgeschlossen

Serie: 25 Jahre Bayerische Ingenieurekammer-Bau (4)

Befürworter der Bologna-Reform werfen den Kritikern vor, sie seien „rückwärtsgewandt“, „Ewiggestrige“, „man dürfe die jungen Leute nicht verunsichern“, „Bachelor und Master seien in der Gesellschaft angekommen“, „Bologna ist längst abgeschlossen“. Keine dieser Aussagen ist inhaltsbezogen. Schlimmer noch, es sind Totschlagargumente. Man möchte sich der Kritik nicht stellen. Bekannte Kritiker sind unter anderem die Professoren Horst Hippler (Präsident Hochschulrektorenkonferenz), Julian Nida-Rümelin (Vorsitzender Philosophischer Fakultätentag) und Dieter Lenzen (Präsident Uni Hamburg).
Kann man die Kritik derart gewichtiger und kompetenter Persönlichkeiten einfach abtun? Wohl nicht. Man muss sich inhaltlich mit den Auswirkungen der Bologna-Reform auseinandersetzen – das tut seit vielen Jahren auch die Bayerische Ingenieurekammer-Bau. Schließlich kommt der Nachwuchs der am Bau tätigen Ingenieure von den Hochschulen und Universitäten.
Zunächst rufen wir uns die Ziele der Bologna-Reform aus dem Jahr 1999 in Erinnerung und schauen, was aus ihnen geworden ist. Oberstes Ziel war die Schaffung eines vereinheitlichten europäischen Hochschulraums. Hierfür wurden folgende wesentliche Unterziele festgelegt: höhere Mobilität und Internationalisierung, gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen, Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit, Verkürzung der Studiendauer sowie Einführung eines Promotionsstudiums. In Deutschland wurden weitere Ziele formuliert, wie zum Beispiel größere Praxisnähe zwecks Arbeitsmarktfähigkeit (Employability), Erhöhung der Erfolgsquote sowie die Verteilung 80 Prozent Bachelor und 20 Prozent Master.
Analysieren wir einmal diese Ziele. Ein Ergebnis der Tagung „Die Folgen von Bologna“ der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau und der Akademie für politische Bildung in Tutzing im Jahr 2014 war, dass es unabhängig von „Bologna“ einen starken Trend zur Internationalisierung gibt. Gerade junge Menschen möchten die Welt kennenlernen. Leider hat sich die Mobilität im Bachelorstudium nicht erhöht, wohl aber im Masterstudium. Hierbei muss man beachten, dass an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAWs) etwa 70 Prozent mit einem BA-Abschluss in die Wirtschaft gehen, an den Unis nur etwa 20 Prozent. Die meisten Studierenden an HAWs genießen also keine Auslandssemester.

Politiker fordern Alleinstellungsmerkmale

Woran liegt das? Einerseits gibt es den Druck aus Wirtschaft und Politik, schnell zu studieren. Andererseits die Studienfortschrittsregel, damit man weiterhin BAföG bekommt und sich die Chance auf ein Masterstudium nicht verbaut. Zudem – und damit kommen wir schon zum zweiten Unterziel – gibt es kaum die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen.
Fast jeder kennt Studenten, die ein Auslandssemester gemacht, aber im Anschluss keine Lehrveranstaltung anerkannt bekommen haben. Die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen würde es jedoch erfordern, dass wesentliche Lehrveranstaltungen harmonisiert würden. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn die Politiker fordern Alleinstellungsmerkmale und Schwerpunktbildungen der Hochschulen und Universitäten. Und die Industrie fordert praxisgerechte Studiengänge. Das führte dazu, dass sich in den vergangenen zehn Jahren die Studiengänge vervierfacht haben, im Bauwesen sogar verzwanzigfacht. Eine Entwicklung, die gerade die Bayerische Ingenieurekammer-Bau sehr kritisch sieht, da statt Generalisten zunehmend Spezialisten ausgebildet werden.
Damit bewegen wir uns fort von breit ausgebildeten, über ein langjähriges Berufsleben flexibel einsetzbaren Ingenieuren. Der Schwerpunkt der Ingenieurausbildung muss jedoch weiterhin auf dem Erwerb grundständiger Fähigkeiten und Fertigkeiten der Absolventen liegen. Spätere Spezialisierungen sind insbesondere auch berufsbegleitend möglich.
Diese Entwicklung geschah unter Begleitung der Fakultätentage und mithilfe der Akkreditierungsagenturen. Hierin manifestiert sich ein weiteres Problem der Bologna-Reform, nämlich die Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildung. Während früher der unabhängige Staat Studiengänge zuließ, so tun das heute abhängige private Akkreditierungsagenturen, die im Wettbewerb zueinander stehen und von den Hochschulen bezahlt werden. Sie wissen, wenn ich den Studiengang nicht akkreditiere, tut es eine der anderen Agenturen. Ein derartiges Akkreditierungssystem brauchen wir nicht, denn es schadet der Qualität von Bildung.
Das nächste Ziel der Reformer war die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft durch die Förderung der Wissenschaft. Dies hat eigentlich nichts mit Bologna zu tun, denn hier geht es um die Stärkung der Wirtschaftskraft Deutschlands und Europas. Es wurden verschiedene nationale wie europäische Förderprogramme in Milliardenhöhe bereitgestellt, die sehr gut angenommen werden. Nun kann man sich fragen, wieso sich diese insbesondere in Deutschland positiv (unter anderem Innovationen, Patente, neue Produkte, Ausgründungen, Wirtschaftskraft, geringe Arbeitslosigkeit) entfalten, während sie in anderen europäischen Ländern zu verpuffen scheinen? Liegt es an unserem schlechten Bildungssystem (gemäß PISA und OECD) oder an dem „großen Mangel“ an Akademikern (gemäß OECD)?

Bildung muss persönlichkeitsbildend sein


Vielleicht sind ja die Bewertungskriterien von PISA und OECD zu hinterfragen? Wenn wir nach Output-Kriterien messen, dann müssten wir mit unserem dualen Ausbildungssystem und mit unserem Wissenschaftssystem (Hochschulen, duales Studium, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, F&E in Betrieben) ganz oben stehen. Anstatt unsere Stärken zu stärken, demontieren wir gerade die Grundlagen unseres Erfolgs durch den Akademisierungswahn, der die betriebliche Ausbildung massiv gefährdet.
Die Gründe für die Forderung nach einer Verkürzung der Studiendauer sind vielschichtig. Einerseits wollte man Geld sparen (80 Prozent Bachelor, 20 Prozent Master, Studienfortschrittsregelung, Studienbeiträge), andererseits wollte die Wirtschaft die jungen Leute schneller im Arbeitsprozess haben. Doch Bildung soll, ja muss, auch persönlichkeitsbildend sein. Dies braucht Zeit und bleibt jetzt auf der Strecke. Hier ist ein Umdenken dringend erforderlich.
Wenn die Statistiken stimmen, dann wurde das Ziel einer Studiendauerverkürzung nicht erreicht. Darüber hinaus ist die Einführung eines Promotionsstudiums eine Kopie aus den USA, mit der Konsequenz, dass voll ausgebildete Akademiker, lediglich ein kleines Stipendium bekommen, jetzt PhD-Students heißen, Vorlesungen hören müssen und in einem verschulten System die Freiheit und Verantwortung verlieren, sich selbst zu managen. Der Autor würde seine wissenschaftlichen Mitarbeiter nie PhD-Students nennen. Das wäre aus seiner Sicht eine Diskriminierung und Missachtung ihrer akademischen Abschlüsse.
Wir verlieren die Basis unseres Erfolgs, die auf der Tetrade basiert: Eigeninitiative, Kompetenz, Verantwortung und Selbstständigkeit. In Deutschland wurde und wird die größere Praxisnähe des Studiums gefordert. Diese Forderung ist sehr unspezifisch und wurde nie konkretisiert. Aber sie wird gebetsmühlenartig wiederholt. Wenn man diejenigen, die die größere Praxisnähe des Studiums fordern, fragt, was sie konkret meinen, kommen meistens folgende Antworten: „Ich habe im Studium viel zu viel unnötiges Zeugs gelernt.“ Oder: „Die Absolventen kennen sich weder mit Normen, noch mit Programmen aus.“ Hierzu muss man sagen, dass es gefährlich wäre, für ganz spezifische Berufsbilder auszubilden, und dass die Beschäftigung mit Methoden das Denken und Handeln schult.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Bildungsauftrag der Hochschulen die Berufsbefähigung ist und nicht die Berufsfertigkeit. Das übrigens hat man in den USA verinnerlicht. Deswegen heißen Berufsanfänger dort „Trainees“. Hier kann Deutschland von den USA lernen.
Die Erhöhung der Erfolgsquote ist politisch verständlich, jedoch gleichzeitig politisch widersprüchlich und möglicherweise eine Gefahr für die Qualität. Warum politisch widersprüchlich? Man kann nicht einerseits die Erfolgsquote bei gleicher Qualität anheben wollen und andererseits 60 Prozent eines Jahrgangs an die Hochschulen schicken. Das kann nicht funktionieren.
Das kann man sich an folgendem Beispiel aus dem Sport klarmachen. Wenn man fordern würde, dass 60 Prozent aller Fußballer des Vereins Bayern München im A-Kader mit A-Kader-Anforderungen trainieren dürfen und die Möglichkeit bekommen, im A-Kader eingesetzt zu werden, dann wäre Bayern München bald von der Bildfläche verschwunden. Viele würden aber das A-Kader-Training gar nicht durchstehen und frustriert aufgeben und sich womöglich fragen, wieso hatte ich im C-Kader so viel Freude? Bayern München könnte aber auch die Anforderungen an den A-Kader senken, mit dem Ergebnis, dass viele sich als A-Kader-Athleten bezeichnen können, nur jetzt leider nicht mehr in der ersten Bundesliga spielen. Würde man dasselbe Ansinnen auf die Münchner Star-Orchester übertragen – nicht auszudenken. Dann bräuchten wir wirklich keinen neuen Konzertsaal.

Wichtig ist das Face-to-face-learning


Es ist festzustellen – und das können viele Professoren bestätigen –, dass ein wichtiger Faktor für die Erfolgsquote die Betreuungsquote ist. Studierende wollen als Person akzeptiert und wahrgenommen werden. Face-to-face-learning ist die einzige Lehrmethode, um junge Leute für sein Lehrgebiet und für die Wissenschaft zu begeistern. Alle deutschen Massenuniversitäten haben im ZEIT-Ranking nur mittelmäßige Noten bezogen auf Lehre und Betreuung, auch wenn sie in der Forschung Spitzenleistungen erbringen. Dies ist ein deutscher Systemfehler, der dringend behoben werden muss. Jeder deutsche Studierende sollte regelmäßig persönlichen Kontakt mit seinem Professor haben können.
Ein grundlegender Fehler bei der Reform war auch, dass man die europäische Wissenschaftstradition, die im Grunde ein Erfolgsmodell war, insbesondere in Deutschland belegt durch eine hohe Innovationskraft, hohe Wirtschaftskraft und sehr geringe Arbeitslosigkeit, gerade auch bei Jugendlichen, einfach über Bord warf und stattdessen uns das amerikanische Bildungssystem überstülpte. Darüber hinaus wurde die Bologna-Reform in Deutschland überlagert von der OECD-Forderung nach einer Akademikerquote von 50 bis 60 Prozent.
Vergleicht man nun Bildungsabschlüsse und Bildungsinhalte in den USA und Deutschland miteinander, auch unter Beachtung des inzwischen eingeführten Qualifikationsrahmens, so stellt man fest, dass wir längst eine 50 Prozent-Quote haben. Man kann aber auch umgekehrt rechnen, und untersuchen, wie denn die Akademikerquote in den USA ist, wenn wir unsere Maßstäbe an eine akademische Ausbildung ansetzen. Dann liegt die Akademikerquote in USA bei etwa 20 Prozent während sie bei uns bei etwa 35 Prozent liegt. Inzwischen schlagen Kammern sowie Handwerks- und Industrieverbände Alarm, dass der Akademisierungswahn die Grundlage unserer Wirtschaftskraft zerstört, da kaum jemand noch eine berufliche Ausbildung anstrebt.
Wir können aus den hier angestellten Überlegungen heraus sechs zentrale Forderungen an die Bildungsreform stellen:
1. Harmonisierung von Inhalten und Verpflichtung zur Anerkennung woanders erworbener Credits.
2. Erforschung des Bedarfsanteils HAW zu Anteil Universität.
3. Abschaffung der Akkreditierungsagenturen und Übertragung der Aufgaben an eine unabhängige quasi-staatliche Institution.
4. Reduzierung und Harmonisierung von Studiengängen ohne Gefährdung von Innovation.
5. Abschaffung von Erfolgsquoten und deutliche Verbesserung des Betreuungsverhältnisses.
6. Exzellenzförderung und Sicherung einer auskömmlichen Grundfinanzierung aller Hochschulen. (Norbert Gebbeken - der Autor ist Professor für Baustatik an der Universität der Bundeswehr München sowie Vizepräsident der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau) (Die Bologna-Reform aus dem Jahr 1999 stößt auch heute noch auf viel Kritik. Einige der damals festgelegten Ziele konnten bis heute nicht erreicht werden - Grafik: wordle)

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