Bauen

Das Würth Museum. (Foto: Wiegand)

30.10.2015

Die Moderne als Zugpferd

St. Gallen setzt verstärkt auf die Architektur

Das 1400 Jahre alte St. Gallen begeistert Architekturfans seit eh und je. Der Stiftsbezirk mit der 719 gegründeten Stiftsbibliothek, deren Schätze fast vollständig erhalten sind, beeindruckte auch die UNESCO. Das gesamte Ensemble einschließlich der barocken Kathedrale von 1767 – erbaut nach Plänen von Gabriel Loser und Johann Caspar Bagnato – wurde 1983 zum Weltkulturerbe erklärt.
In den Altstadtgassen erfreuen 111 Schmuckerker, mal mit bunten Blütengirlanden, mal mit exotischen Tieren verziert. Bau-Accessoires, die den Reichtum und den Charakter der Hauseigner erkennen lassen. Boshaft blicken zwei Engel unten an einem fein geschnitzten Holzerker in der Spisergasse, so als lästerten sie über die Nachbarn. Welche Last solch ein Erker den Trägern aufbürdet, wird ebenfalls deutlich. Der Kraftprotz, der den Runderker in der Gallusstraße schultert, guckt grimmig. Ganz anders das Stickereigeschäftshaus Oceanic von 1905 in der St. Leonardstraße. Feiner Jugendstil, entworfen von Pfleghard & Haefeli. Auf der gewellten Fassade halten die vom Bildhauer August Bösch geschaffenen Schicksalsgöttinnen den güldenen Lebensfaden.
Die ersten Erfahrungen mit der Moderne machten die St. Gallener 1968 beim Theaterneubau, konzipiert von Cramer-Jaray-Paillard. Der Betonbau steht im Kontrast zur gegenüberliegenden Tonhalle von 1909, geplant von Gottfried Julius Kunkler. Revolutionär war bereits ihr Innenleben – ein Eisenbetonskelett von Robert Maillart. In den 1990er Jahren erhielt Stararchitekt Santiago Calatrava drei Aufträge. Als erstes errichtete er 1996 auf dem verkehrsreichen Bohl eine Buswartehalle, der 1998 die kantonale Notrufzentrale und 1999 der auffällige Eingang zum Pfalzkeller folgten. Die trotz ihrer beschwingten Formen zunächst kritisch betrachtete Wartehalle wird inzwischen vehement verteidigt. Eine Reaktion auf das „Weg mit der Wartehalle“ im Jahr 2009, nachdem ein St. Gallener Architektenteam den Wettbewerb für die Umgestaltung von Marktplatz und Bohl gewonnen hatte. Die geplante Versetzung der Wartehalle wurde bei der zweiten Volksabstimmung im April 2015 erneut abgelehnt. Calatrava empfiehlt nun, bei der Marktplatzplanung wieder bei Null anzufangen, damit findet er Zustimmung und ist bereit, eine Studie zu erarbeiten.
Begrüßt wurde jedoch die Sanierung und Erweiterung des 1976 von Custer Hochstrasser Bleiker errichteten Rathauses, was Bolthauser Architekten bis 2007 überzeugend gelang. „Zusammen mit der neuen Überhöhung des letzten Geschosses im Turmbereich verstärken die über die Fassade vorstehenden T-Profile das vertikale Streben des Hochhauses. Die neue Plastizität der Fassade und die entschärfte Volumetrie im Bereich des Sockelbaus führen zu einer feinräumlichen Verzahnung des Stahl-Glas-Baus mit seiner steinern-historischen Nachbarschaft“, erklären die erfolgreichen Planer.
Gut angenommen wurde auch der im September 2010 verwirklichte Umbau des leerstehenden Lokomotivdepots zur Lokremise. Die Architekten Isa Stürm und Urs Wolf haben das fast hundertjährige Ensemble in ein „urbanes Kulturaggregat“ verwandelt. Ebenfalls bewährt hat sich die Stadtlounge von 2011, sozusagen der rote Teppich für alle mit entsprechenden Sitzmöbeln, eine Idee von Pipilotti Rist und Carlos Martínez. Nur die Entfernung der Kaugummis auf dem Anstrich macht mitunter Probleme.
Zu den Neuheiten ganz anderen Kalibers gehört das 2013 fertiggestellte Fachholschulzentrum von giuliani.hönger Architekten am Bahnhof. Der geradlinige Bau mit dem Viereckturm vereinigt nun die diversen Studienstandorte in diesem Gebäude. Das neue Domizil beflügelt auch die Pläne zur Wiederaufnahme des Fachbereichs Architektur, Bau und Planung. Der Fachbereich soll „intelligente Lösungen und fundierte Analysen für die Bauwirtschaft sowie umfassende Leistungen im Bereich Raumplanung und Landschaftsarchitektur“ bieten, heißt es. „Der politische Prozess zur Bewilligung des Lehrgangs läuft. Der Kantonsrat wird im Laufe des Herbstes über diese Frage abstimmen“, erklärt Direktor Albin Reichlin und erwartet die Zustimmung.
Diese Wertschätzung von Bau und Architektur zeigt Zukunftsorientierung, ist doch auch die Moderne ein Zugpferd. Siehe das Würth-Museum im nahen Rorschach. Bis vor Kurzem galt das 1746 erbaute Kornhaus von Caspare Bagnato am Bodensee als Wahrzeichen des Städtchens. Dort wurde das Getreide gelagert, das aus Süddeutschland in die Ostschweiz verschifft wurde.
Seit April 2013 lockt das Würth Museum der Architekten Annette Gigon/Mike Guyer die Besucher verstärkt nach Rorschach. Selbst bei Regen fasziniert der grünschimmernde, 150 Meter lange und bis 50 Meter breite Glasbau am südlichsten Uferpunkt des Sees. Im lichten Innern kommt auf rund 600 Quadratmetern Ausstellungsfläche die moderne Kunst adäquat zur Geltung. Wie bei allen 15 Museen des Unternehmers Reinhold Würth ist der Eintritt frei. An der Rückseite des Gebäudes überrascht ein Bootshafen. Der Bodensee und seine Uferpromenade verbinden nun das traditionsreiche Kornhaus mit dem zeitgenössisches Kunstbau. (Ursula Wiegand) (Träger des Runderkers; das neue Fachhochschulzentrum und die Wartehalle auf dem Bohl - Fotos: Wiegand)

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