Bauen

Vor 500 Jahren, am 23. August 1521, stiftete Jakob Fugger in Augsburg die Fuggerei. (Foto: Fuggerei Augsburg/Eckhart Matthäus)

16.04.2021

Ein Zuhause für „würdige Arme“

Eine Sozialsiedlung für ein Leben in Würde: Die Fuggerei in Augsburg wurde vor 500 Jahren ins Leben gerufen

Dagegen sölle ain yedes Hawsvolckh alle Jar ain Gulden, zu Auffenthaltung der Gebew geben.“ Was sich nach schwerer Zunge anhört, ist der bedeutendste Passus eines Stiftungsbriefs aus dem Jahr 1521. Und der hat einen bis heute gültigen, revolutionären Inhalt.

Der Stifter war kein Geringerer als der Augsburger Kaufmann, Bankier und Bergwerksunternehmer Jakob Fugger, der seinem Beinamen „Der Reiche“ alle Ehre machte. Vor 500 Jahren, am 23. August, stiftete er mit zwei Neffen die heute älteste, noch existierende Sozialsiedlung der Welt, die Augsburger Fuggerei. Hier sollten „würdige Arme“ ein neues Zuhause finden und nicht mehr als einen Rheinischen Gulden für die Miete zahlen. Daran hat sich bis auf die Währung nie etwas geändert.

Heute bezahlt man für eine Wohnung in der Fuggerei 0,88 Euro Kaltmiete – im Jahr. Rainer H. lebt seit drei Jahren in der innenstadtnahen Sozialsiedlung. „Ich bin jeden Tag froh, dass es geklappt hat“, betont er. „Hier kann man zur Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen.“ Der Frührentner, der krankheitsbedingt seinen Job verlor, hatte auf dem angespannten Immobilienmarkt der Stadt keine Chance. „Dass ich nicht obdachlos geworden bin wie so viele in Augsburg und nie Hunger leiden musste, dafür bin ich sehr dankbar“, erklärt der Fuggerei-Bewohner sichtlich bewegt.

Das Schicksal von Rainer H. belegt ein bundesweites, soziales Problem. Bezahlbarer Wohnraum ist nicht in ausreichendem Maße vorhanden und Gegenmaßnahmen sind, wenn überhaupt eingeleitet, eher von zögerlicher Natur. Da kann es nicht erstaunen, dass sich das jahrhundertelang erprobte Erfolgsmodell der Fuggerei großer Beliebtheit erfreut. Die Warteliste ist lang wie eh und je. Verwunderlich allerdings, dass diese Idee keine Nachahmer gefunden hat. „Es ist nie mehr ein vergleichbares Objekt entstanden“, erklärt Astrid Gabler, die in der Administration der Fuggerei für Kommunikation und Programme zuständig ist.

Und wie kommt man an eine Wohnung in der Fuggerei? Erste Kontaktperson ist Doris Herzog, die als eine von zwei Sozialpädagoginnen auch Ansprechpartnerin für die Sorgen und Nöte der Bewohnerinnen und Bewohner ist. Sie führt die Bedürftigkeitsprüfung durch, an der nur teilnehmen darf, wer drei Grundvoraussetzungen erfüllt. Sie gelten seit 500 Jahren. „Man muss in Augsburg wohnhaft, katholisch und bedürftig sein. Letzteres wird durch das Amt für Soziale Leistungen geprüft“, fasst Herzog zusammen.

Rund 150 Menschen
leben heute in 67 Häusern

Falls sie eine Empfehlung ausspricht, der intensive Gespräche mit den Bewerbern vorangegangen sind, beginnt die Zeit des Wartens. „Drei bis fünf Jahre muss man aktuell schon Geduld haben“, so die Sozialpädagogin. Danach bedürfe es noch der Zustimmung des Administrators der Fuggerei und den Vertretern der drei Familienlinien der Fugger.

Rund 150 Menschen leben heute in 67 Häusern. Die Siedlung des Jakob Fugger ist allerdings längst Vergangenheit. Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg und im Zweiten Weltkrieg, Wiederaufbau, Erweiterungen des Areals und ständige Umbaumaßnahmen, mit denen Häuser und Wohnungen den sich wandelnden Erfordernissen angepasst werden – die Geschichte der Fuggerei ist eine der ständigen Veränderung. „Zu der gehörte 1998 auch die Aufhebung der Mindestaltergrenze von 55 Jahren“, blickt Astrid Gabler zurück. „Heute ist die Fuggerei sozusagen ein Mehrgenerationenhaus.“

Einen Twen wie Noel G. würde man hier nicht unbedingt erwarten. Der 26-Jährige zog 2012 mit Mutter und Bruder ein und wohnt seit ein paar Jahren in einer eigenen, 36 Quadratmeter großen Wohnung. Er spricht von „unserer kleinen Gemeinde“ und lobt den Zusammenhalt. „Hier hilft man sich.“ Ihm hätte das vor allem in seiner Findungsphase gutgetan, erinnert sich Noel, der mittlerweile zum Wirtschaftsfachwirt ausgebildet wurde. „Die Fuggerei ist ein Schutzraum, Angst vor Kündigung kennen wir nicht.“

Derzeit leben überwiegend Alleinstehende in der Fuggerei, aber auch Paare und Familien mit Kindern. Zwei Drittel der Bewohner sind weiblich und 50 Prozent jünger als 66 Jahre. Die unmöblierten Wohnungen sind unterschiedlich groß. Meist liegen in einem der Reihenhäuser zwei übereinander – mit eigenen Eingängen von der Straße aus, die nur im Ausnahmefall befahren werden darf. Die unteren Wohnungen haben kleine Gärten, die oberen einen Speicher.

„Mein Gärtchen liebe ich sehr“, gesteht Dorothea S., deren grüne Oase geschützt hinter einer Mauer liegt, die die Fuggerei von der Außenwelt abschirmt. Auch die Rentnerin betont den guten Kontakt zu anderen Bewohnern. Es sei interessant, mit so vielen ganz unterschiedlichen Menschen zusammenzuleben. „Wir alle genießen hier ein Leben in Würde“, freut sich Dorothea S., die nach 25 Jahren in der Entwicklungshilfe in Ecuador und aufgrund einer Scheidung nur eine kleine Rente bezieht.

Jakob Fugger hatte mit seiner Stiftung die Idee der Hilfe zur Selbsthilfe verfolgt. Die Fuggerei-Bewohner sollten wieder in die Gesellschaft zurückfinden. Dass dazu ein eigenständiges (Privat-) Leben – anders als in den Armenhäusern der damaligen Zeit – vonnöten war, muss er gewusst haben. „Bis heute will die Fuggerei ein Wohn- und Lebensraum zur selbstständigen Entfaltung sein“, erklärt Astrid Gabler. Dazu gehören Angebote an die Bewohner zur Stärkung der Gemeinschaft: das wöchentliche Frühstück und regelmäßige Feiern, Besuche von Kulturveranstaltungen und Ausflüge. Doris Herzog berichtet, dass „meistens rund ein Drittel unserer Mieter teilnimmt“.

In der Fuggerei besteht zudem die Möglichkeit, ehrenamtlich oder gegen ein geringes Entgelt mitzuhelfen. So sorgt Rainer H. dafür, dass Bewohner, die nach 22 Uhr nach Hause kommen oder noch ausgehen möchten, nicht vor dem dann geschlossenen Tor stehen. Er ist einer der Nachtwächter. „50 Cent muss ich fürs Kommen und fürs Gehen kassieren, nach Mitternacht sogar einen Euro.“ Das Geld dürfe er behalten. Viele Bewohner erwähnen, dass sie sich in der Fuggerei sicher fühlen. Das liegt wohl auch daran, dass die Siedlung eine Gated Community ist, wie man heute die bewachten Wohnanlagen nennt, in denen sich in der Regel Bestverdienende von der Gesellschaft abschotten.

Drei Gebete
für den Stifter

Rainer H. erzählt, dass er seinen Nachtdienst nur mit Rosenkranz antritt. Ob er denn auch täglich die drei Gebete für den Stifter spreche? „Aber natürlich“, sagt er und nickt. Jakob Fugger hatte seine Stiftung wie damals üblich auch deshalb vollzogen, weil er durch sein mildtätiges Werk hoffte, den Aufenthalt im Fegefeuer möglichst kurz zu gestalten. Zur Unterstützung verpflichtete er seine Bewohner, jeden Tag ein Vaterunser, ein Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis für ihn und seine Nachkommen zu sprechen. Diese Regel gilt bis heute. „Ob sie befolgt wird? Das muss jeder mit sich selbst ausmachen“, räumt Sozialpädagogin Herzog lächelnd ein.

Eine eigene Kirche hat die Fuggerei seit 1582. Sie liegt vis-à-vis vom Haus des Administrators und dem lauschigen Markusplätzle. Ihr Pfarrer, für den jeder Haushalt noch einmal 88 Cent im Jahr zu entrichten hat, wohnt gleich neben dem Gotteshaus. Ein paar Schritte weiter liegt der heutige Eingang zur Fuggerei. Hier befindet sich auch die Kasse, an der Dorothea S. den ein oder anderen Tag jobbt.

Ja, man muss seit 2006 Eintritt bezahlen, mittlerweile 6,50 Euro. Die Fuggerei ist zwar kein Freilichtmuseum, jedoch die meistfrequentierte Sehenswürdigkeit Augsburgs. „Die touristischen Einnahmen sind für Instandhaltung und Sanierung der Siedlung von immer größerer Bedeutung geworden“, berichtet Astrid Gabler. Die Erträge aus der Fuggerschen Forstwirtschaft, aus denen die Fuggerei früher fast ausschließlich finanziert wurde, seien zurückgegangen, nicht zuletzt wegen des Klimawandels.

Die Besucher müssen sich aber nicht mit dem guten Gefühl, die Sozialsiedlung zu unterstützen, bescheiden. Es gibt auch mehrere (neue) Museen. Dort begegnet man dank medialer Unterstützung vielen Bewohnern auf originelle Weise. Man erfährt, wie sich das Leben in der Fuggerei in den letzten 70 Jahren verändert hat und blickt auf die Geschichte der Fugger und ihrer Siedlung.

Zur Fuggerei mit ihren acht Gassen gehört auch eine Grünanlage. Hier liegt der Eingang zum eigenen Bunker, in dem im Zweiten Weltkrieg fast alle Bewohner die Bombenangriffe überlebt hatten. Ein Museum hält dort diese Zeit wach. Dass sich der Wiederaufbau und die Erweiterungen, die sich bis in die 1970er-Jahre erstreckten, am Biedermeier-Stil orientierte, trägt zum Charakter einer Dorfidylle bei, von der die Bewohner schwärmen (vergleichbar den flämischen Beginenhöfen oder den Hofjes in Haarlem und Leiden). Die Häuschen strahlen in Ockergelb, während die Läden der weißen Fensterrahmen grün gestrichen sind. Im Herbst leuchtet der wilde Wein, der an zahlreichen Fassaden rankt, in schönsten Rostbraun-Tönen. In einem stillen Winkel erinnert eine eher bescheidene Büste an den Stifter. Es scheint, als blicke Jakob Fugger zufrieden auf sein Werk. Grund genug hätte er. (Ulrich Traub)

 

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