Bauen

Werner Sobek. (Foto: Rene Müller)

18.03.2021

Lösungen für das Bauen von morgen entwickeln

Dies ist das Jahrhundert der Ingenieure

Noch nie haben so viele Erwachsene so viele Märchenbücher gelesen, noch nie wurden mehr Retroartikel, noch nie wurden mehr Buntstifte an Erwachsene zum sonntäglichen Kolorieren von Ausmalbüchern verkauft, noch nie wurden mehr Schlösser wieder aufgebaut oder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gezerrt. Kommt diese Rückwendung in den Träumen der Vergangenheit vielleicht auch daher, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger von einer Angst beschlichen werden, wenn sie an ihre eigene Zukunft und an die Zukunft ihrer Kinder denken? An eine Zukunft, die sie nicht mehr selbst gestalten können, sondern die wie ein scheinbar Unausweichliches auf sie zukommt?

Schon Paul Watzlawick wies immer wieder darauf hin, dass wir für unser emotionales Überleben die Perspektive eines Lebens in einer sinnvollen Welt brauchen, da ein als sinnlos erkanntes Leben unerträglich sei. Führt also die von Ernst Bloch konstatierte „Verzweiflung am Ende“, die Befürchtung einer sich anbahnenden unerträglichen Handlungsunfähigkeit, des ich-kann-so-oder-so-nichts-ändern in diese Flucht nach hinten, in Kleine, in die Vergangenheit, in die Märchen?

Andauerndes Negieren

Die Menschheit steht vor ökologischen und sozialen Problemen von noch nie dagewesener Dimension und Komplexität. Sie tut dies selbstverschuldet. Erst ein über viele Jahre andauerndes Ausblenden und Negieren der sich kontinuierlich verschlimmernden Randbedingungen führte zu der Situation, in der wir uns heute befinden. Die Weltbevölkerung umfasst derzeit 7,7 Milliarden Menschen. Von diesen leben rund 6,3 Milliarden in sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern, verfügen also in der Regel nicht über eine stabile Versorgung mit Frischwasser, eine funktionierende Abwasser- und Abfallentsorgung oder einfachen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung.

Würde man diesen Menschen eine gebaute Umwelt zur Verfügung stellen, welche die genannten Defizite zu überwinden hilft, dann wären hierzu Baustoffe in der Größenordnung von 17 000 Gigatonnen erforderlich. Materialien, die allesamt aus der Erdkruste zu entnehmen, zu Halbzeugen zu verarbeiten und zu Bauwerken zu verbauen wären.

Diese für einen Laien kaum vorstellbare und hier deshalb exemplarisch in ein Volumen umgerechnete Baustoffmenge lässt sich als eine Wand entlang des 40 000 Kilometer langen Äquators darstellen, die eine Dicke von 30 Zentimetern hat und die eine Höhe von 57 Kilometern aufweist. Man erkennt schnell, dass das Vorhaben nicht möglich ist, nicht wegen der Menge der hierfür benötigten Ressourcen, sondern auch wegen der bei der Herstellung dieser Baustoffe und Bauteile getätigten grauen Emissionen, die eine Erwärmung des Erdklimas von deutlich mehr als sechs bis acht Grad nach sich ziehen würde.

Bei Betrachtung der baulichen Notwendigkeiten, welche durch das Wachstum der Weltbevölkerung entstehen, liegen die Probleme ähnlich. Der Netto-Zuwachs der Weltbevölkerung liegt derzeit bei 2,6 Menschen pro Sekunde. Dies ist die Zahl der Zahlen. Sie ist wichtiger als jeder DAX-Wert und wichtiger als jedwede Nachricht aus den Welten von Wirtschaft, Politik und Sport. Würde man jedem dieser Menschen eine stabile Versorgung mit Frischwasser, eine funktionierende Abwasser- und Abfallentsorgung, einfachen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung zubilligen wollen, dann müsste man (je nach Standard) pro Sekunde etwa 800 bis 1300 Tonnen an Baustoffen aus der Erdkruste entnehmen, zu Halbzeugen verarbeiten und zu Bauwerken verbauen.

Die sinnbildliche, jährlich zu errichtende Äquatorwand wäre jeweils rund zwei Kilometer hoch. Auch hierfür sind die erforderlichen Ressourcen nicht vorhanden. Die bei der Herstellung dieser Baustoffe und Bauteile getätigten grauen Emissionen würden eine weitere, signifikante Erwärmung des Erdklimas bewirken.

Mit weniger Material bauen

Das Bauschaffen steht nach neuesten Erkenntnissen schon heute für mehr als 50 Prozent der klimaschädlichen Emissionen. Es trägt damit wie keine andere Branche zur Klimaerwärmung bei.

Auch ohne auf weitere wichtige Aspekte wie Energieversorgung, Frisch- oder Abwasseraufbereitung oder Mobilitätsaspekte einzugehen, wird aus dem Gesagten klar, dass dem Bauschaffen, das ja nichts anderes ist als der Produktionsversuch menschlicher Heimat und den zugehörigen technischen Infrastrukturen, eine herausragende Bedeutung bei der Bewältigung unserer heutigen und zukünftigen Probleme zufällt.
Für mehr Menschen mit weniger Material emissionsfrei bauen heißt deshalb die von mir ausgegebene Losung der Zukunft.

Die Zukunft aufzeigen

Den Ingenieuren, insbesondere den Bauingenieuren, fällt damit eine ungeheure Aufgabe und Verantwortung zu. Sie sind es, welche die Losung in die Tat umsetzen können und müssen. Mit aller für ihr Tun und Handeln typischen Phantasie und Innovationskraft. Sind sie darauf vorbereitet worden, während der Hochschulausbildung, während ihres derzeitigen Tuns? Ich denke: Nein. Verfügen sie über die notwendigen Werkzeuge und Methoden, über die notwendige Erkenntnis der Zusammenhänge, verfügen sie über die notwendige Kraft, diesen langen Weg zu gehen, verfügen sie über die notwendige Innovationskraft? Ich denke: Ja.

Wer, wenn nicht wir, die Bauingenieurinnen und Bauingenieure unserer Zeit, sind in der Lage, kurzfristig umsetzbare Lösungen für das Bauen von morgen zu entwickeln? Zusammen mit anderen Disziplinen, mit Architekten, Ökologen, Soziologen, Künstlern, Stadtplanern und vielen mehr, aber stets vorausgehend, die Disziplinen integrierend, den Weg weisend? Wir stehen am Beginn eines Jahrhunderts der Ingenieurinnen und Ingenieure. Dort, wo Politik schon seit Langem durch Schweigen und Untätigkeit versagt, dort, wo die Wissenschaft sich in englischsprachigen Publikationen an ihresgleichen, nicht aber an die sie finanzierenden Bürgerinnen und Bürger wendet, dort, wo die Gesellschaft die am Horizont unübersehbar aufscheinenden Probleme schlichtweg negiert, müssen es die Ingenieurinnen und Ingenieure sein, die Zukunft aufzeigen und möglich machen. Wer, wenn nicht sie?

Ein notwendiges Zeichen

Die Gesamtheit unserer Bürgerinnen und Bürger, also unser Staat, hat, vertreten durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, den Ingenieurpreis der Bundesrepublik Deutschland ausgelobt. Im Rang eines Staatspreises. Dies ist ein großes, aber auch notwendiges Zeichen. Es ist gleichzeitig ein klares und unmissverständliches Votum: Für Wertschätzung, welche die Öffentlichkeit der Arbeit der Ingenieurinnen und Ingenieure entgegenbringt, aber auch für die unermesslich große Hoffnung, die sie in deren Arbeit, deren Kraft, deren Innovationsfähigkeiten, deren Fähigkeit zur Überwindung unserer Probleme setzt. Wer, wenn nicht wir?
(Werner Sobek)

Der Autor ist Bauingenieur und Architekt sowie Professor an der Universität Stuttgart als Nachfolger von Frei Otto und Direktor des Instituts für Leichte Flächentragwerke und des Zentrallabors des Konstruktiven Ingenieurbaus

 

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