Vielleicht ist es ja nur unserer Bequemlichkeit, auf jeden Fall aber unserer Sesshaftigkeit, zu verdanken, dass der Mensch heute überhaupt ein Dach über dem Kopf hat. Architektur, auch wenn deren spektakulärste Beispiele anfangs vornehmlich den Göttern geweiht waren, hat Geschichte geschrieben. Weltgeschichte. Daraus ist jetzt die sehenswerte Ausstellung „Weltgeschichten der Architektur. Ursprünge, Narrative, Bilder 1700-2016“ entstanden, eine Vitrinenschau der Bücher, in denen Architektur in Text und Bild von der Urhütte bis zur Überwältigungsarchitektur vermittelt wird.
Angefangen bei Fischer von Erlachs Kompendium Entwurff Einer Historischen Architcture von 1721 mit der Aufnahme der sieben Weltwunder der Antike sowie der heute wieder brandaktuellen UNESCO-Weltkulturerbe-Oasenstadt Palmyra, um deren Erhalt gerade die Welt ringt, bis hin zu reich bebilderten

Überblickswerken der Jetzt-Zeit, die eine dem Zeitgeist verpflichtete Globalgeschichte entwerfen.
Zu sehen ist diese dementsprechend text- wie bildreiche Bücherschau, kuratiert vom Münchner Kunsthistoriker und Vasari-Spezialisten Matteo Burioni, im Nordhof des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. Ein Ort, der passender nicht sein kann. Ausstellung und der begleitende Katalog sind das Ergebnis eines Seminars an der Ludwig-Maximilians-Universität, das mit Studierenden und Doktoranden der Kunstgeschichte gemeinsam erarbeitet wurde.
Wie wohnten einst die alten Ägypter, Assyrer, Phönizier, Hebräer, Pelasger und Phönizier? Wie die Inder, Perser, Germanen, Gallier, Griechen und Römer? Was formt überhaupt unsere Vorstellungen von Architektur der verschiedenen Völker?
Diese Fragen bewegten schon den berühmten Architekten der Pariser Oper: Charles Garnier. Als beratender Chefarchitekt bei der 10. Weltausstellung 1889 in Paris mit einer Besucherzahl von über 32 Millionen bewies er Weitblick. In einer Art frühestem und größtem Freilichtmuseum schuf er am Fuße des neu errichteten Eiffelturms einen Parcours der menschlichen Behausung. Damit wurde nicht nur die Architekturgeschichte populär. Als gebaute Geschichtsfiktion wurde seine imaginäre Weltarchitektur zur Populärkunst eines Massenpublikums.
Was mit dem Renaissancehaus als krönendem Ende der Gebäudeschau endete, war aber keineswegs eine Wanderung durch eine Totenstadt. Vielmehr sollte durch reichliche Inszenierung das Gefühl von realem Leben vermittelt werden. Weltausstellungen waren überhaupt die Laboratorien zukünftiger Museen und Erlebnisparks. Das menschliche Wesen, damals noch ein Randbereich der Geschichte, im Blick hatten Garnier und sein Freund August Ammann, mit dem er gemeinsam begleitend zur Architekturschau seinen Prachtband Geschichte der menschlichen Wohnformen schrieb.
Mit dem Eindringen in die Intimität der Völker, in begehbare Häuser, gewährten die Entwerfer historischer Wohnwelten Einblicke in die Lebenswelten fremder Völker und Zivilisationen, die in drei Rassen gegliedert wurden. Lange vor dem „Rasse“-Denken der Nationalsozialisten hatte bereits Garniers Lehrer Viollet-le-Duc in seiner Geschichte der menschlichen Behausung von 1875 reklamiert, die Architektur der Gegenwart solle sich unter Umgehung der Antike und der Renaissance ausschließlich an die „Volksstile“ oder an die der „eigenen Rasse“ angemessenen Stile halten.
Ein Standardwerk der Architekturgeschichte bis heute lieferte der englische Architekt Sir Banister Fletcher mit A History of Architecture von 1896. Darin enthalten ist „The Tree of Architecture“ – eine Grafik, welche die Entwicklung der Stile anhand einer Baumstruktur wiedergibt. Entsprechend der kolonialen Vergangenheit wird der Hauptstamm der europäischen Baukunst zugeordnet. In einer späteren Ausgabe erscheint als Gipfel der Entwicklung und Höhepunkt der Moderne ein amerikanisches Hochhaus in der Baumkrone.
Ihr breit gefächertes Wissen schöpften die meisten Autoren weniger durch eigene Anschauung als vielmehr aus Reiseberichten. Im deutschsprachigen Raum erschienen im 19. Jahrhundert 15 Weltgeschichten der Architektur, darunter jenes opulente Pionierwerk Geschichte der Baukunst in drei Bänden des Berliner Kunsthistorikers Franz Kugler. Wie seine Nachfolger Wilhelm Lübke und Anton Springer lieferte er das Modell einer weltumspannenden Kunstgeschichte. Sie ebneten den Weg für das Opus Magnum der Propyläen Kunstgeschichte.
Mit der Rückbesinnung auf alte Traditionen und Materialien, wie dem Arme-Leute-Baustoff ungebrannter Ziegel, hat der Wahl-Berliner Architekt Francis Kéré der Architektur in Afrika erfolgreich neue Wege gewiesen. Mit diesem Paradigmenwechsel schließt sich der Kreis der Ausstellung.
(Angelika Irgens-Defregger)
Die Ausstellung ist in München noch bis 28. Februar im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Katharina-von-Bora-Str. 10, zu sehen.
(Der „Tree of Architecture“ aus: Banister Fletcher, A History of Architecture, 8. Auflage, London 1928)
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