Freizeit und Reise

Eine Lokomotive der Baureihe 98 wurde wegen fehlender Gleisanbindung von der Fabrik zum nächsten Gleisanschluss mit 16 Kaltblütern transportiert. (Foto: Ursula Wiegand)

21.09.2020

Vom historischen Dampfross zum Elektroauto

500 Jahre Industriekultur in Sachsen und der Weg in die Zukunft

Reger Auto- und Straßenbahnverkehr herrscht in Chemnitz auf der Zwickauer Straße. Dennoch erweckt ein roter, lang gestreckter, unter Denkmalschutz stehender Backsteinbau mit schön gestalteten Fenstern sogleich Interesse. Es ist das im April 2003 eröffnete Industriemuseum Chemnitz. Eigentlich sollten diese zuletzt leer stehenden Bauten der ehemaligen Werkzeugmaschinenfabrik Hermann und Alfred Escher AG abgerissen werden, auch noch nach der Wende. Engagierte Bürger verhinderten die Sprengung und seit 1999 ließ der Chemnitzer Stadtrat das Gelände sanieren.

Die 52 Meter lange Gießereihalle, ein Klinkerbau von 1907 mit Sheddach und großen Rundbogenfenstern sowie das benachbarte Maschinenhaus wurden durch einen Verbindungsbau vereint. Noch bis zum 31. Dezember 2020 wird drinnen die Sonderausstellung MaschinenBoom. gezeigt. Damit ist das Industriemuseum Chemnitz einer von sechs Standorten, die die bis zum 31. Dezember 2020 verlängerte 4. Sächsische Landesausstellung auswählte, um das Thema Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen im authentischen Umfeld darzubieten.

In und um Chemnitz boomte rund 200 Jahre lang der Maschinenbau und so sind dort Maschinen aller Art und Größe zu sehen, von der Werkzeugmaschine, über eine der ersten elektrischen Waschmaschinen, einen früheren Bierwärmer bis zu heutigen Robotern, die Autos montieren. „Welche Maschine würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“, fragt Kurator Jürgen Kabus. Sicherlich keine der riesigen Dampfmaschinen, die – mit Kohle beheizt – durch die von ihnen erzeugte Energie weitere Maschinen in Gang setzten. Vielerorts werden sie stolz und lautstark vorgeführt.

Kein Gleisanschluss

Auch die schwarz glänzende, bald hundertjährige Lokomotive der Baureihe 98, die hier zu sehen ist, käme ohne Gleise auf einer einsamen Insel kaum voran. Genau dieses Problem hatten auch weitere historische Dampfrösser, die in Chemnitz-Hilbersdorf gehütet werden, momentan der Standort für den EisenbahnBoom. (verlängert bis Ende des Jahres).

Erstaunlicherweise wurden in Chemnitz 60 Jahre lang Lokomotiven gebaut, ohne dass die Fabrik einen Gleisanschluss besaß. Also hat man die fertigen Loks wieder zerlegt und die Teile per Pferd und Wagen transportiert. Anfangs bis nach Leipzig, später zu Bahnhöfen in Chemnitz. Insgesamt 30 Mal und zuletzt am 5. September 1908 zogen 16 kräftige Kaltblüter diese Last.

Dass der Maschinen- und Eisenbahnbau Chemnitz Wohlstand bescherte, beweist das von Stadtbaudirektor Fred Otto geplante Stadtbad von 1935 im Bauhausstil. Zurzeit nutzen jährlich mehr als eine Million Schwimmer*innen die Anlagen mit der 50-Meter-Bahn. Ebenso gefragt wie früher sind die Wohnungen in den „bebilderten“ Historismus-Bauten am Kaßberg, errichtet von 1870 bis 1930.

Doktorarbeit auf Klopapier

Die Zentralausstellung findet in Zwickau statt, im Audi-Bau, der ehemaligen Montagehalle der Auto-Union AG, einem 1938 errichteten Klinkerbau. Dort wird auch erklärt, warum 500 Jahre Industriekultur in Sachsen gefeiert werden, obwohl der Kohle- und Silberbergbau dort vor gut 800 Jahren begannen. Als Ausgangspunkt wählte man das „Zweite Berggeschrey“ kurz vor 1500, als im Erzgebirge ein großer Silberfund entdeckt wurde. Immer, wenn die Bergleute dermaßen fündig wurden, stießen sie ein Jubelgeschrei aus. Ansonsten werden hier nicht nur technische Geräte gezeigt, sondern auch historische Objekte und Dokumente, unter anderem die Doktorarbeit eines Dresdners, geschrieben während des Ersten Weltkriegs auf Toilettenpapier in einem französischen Gefängnis.

Der Hit in Zwickau ist jedoch die Ausstellung Autoboom. nebenan im August Horch Museum, benannt nach dem berühmten Konstrukteur edler Fahrzeuge. In der 1912 erbauten Villa neben der Fabrik wohnte er eine zeitlang mit seiner Familie. Beim Blick auf die schwarz-dunkelrote Horch-Limousine, den grünen Horch von 1911 und den gelben, auch von Horch konstruierten Audi Typ C von 1913, ein „Alpensieger“, bekommen Autofans leuchtende Augen. In der Montagehalle liefen auch preiswerte DKW-Frontantriebler sowie Wanderer-Modelle vom Band und zu DDR-Zeiten der Trabi (Spitzname „Rennpappe“). Dem letzten in Pink folgte ein beigefarbener VW-Polo.

Zu sehen ist aber auch ein kleiner SAXI, ein Elektroauto von 1996 mit Steckdose, sowie das fliegende Auto TRACE (Travelling Space) mit autonom fahrender Plattform, das mit den Insassen abheben und sogar an ein Flugzeug andocken kann. Ein Entwurf der Technischen Universität Dresden. Über weitere zukunftsweisende Entwicklungen informieren Videos im Untergeschoss.

Dem TextilBoom. begegnet man in der ehemaligen Tuchfabrik Gebr. Pfau in Grimmitschau. Der Lärm der angestellten Dampfmaschine und der Webstühle geht auf die Ohren. Den mussten die Arbeitenden, zumeist Frauen, von Montag bis Samstag jeweils zwölf Stunden lang ertragen, bis sie sich den 10-Stunden-Tag erstreikten. Doch „Qualitätsarbeit Ehrensache“, steht auf einem alten Blechschild. Heutzutage bietet Sachsens Textilindustrie neue Qualitätserzeugnisse, die sich gegen Billigprodukte aus Fernost behaupten.

Doch ohne die Kohle hätte es in Sachsen keinen Boom gegeben. Die Kehrseite waren ungefilterte Rauchschwaden. Alte Bilder zeigen den schwarzen Qualm, der aus hohen Schornsteinen kam.

Über dem Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge mit dem eckigen Förderturm über dem roten Klinkerbau – Standort für den KohleBoom. – bleibt seit der Stilllegung die Luft rein. Gerne wirft Frank Stein Sachsens größte, 1500 PS starke Dampfmaschine an. Die alte Schmiede erzählt von der 800-jährigen Steinkohlegewinnung. Das reichlich vorhandene Schwarze Gold machte Sachsen zum Vorreiter bei der Industrialisierung Deutschlands.

Noch stärker glänzte Freiberg, wo 1168 das erste Silbererz gefunden wurde. Dort begann tatsächlich ein SilberBoom. Besucher können nun in die Reiche Zeche hinunterfahren. Das Freiberger Revier war der wichtigste sächsische Silberlieferant – sehr zur Freude von August dem Starken (1670 bis 1733), Kurfürst von Sachsen und später auch König von Polen. Mit dem Silber finanzierte er den Umbau Dresdens in eine elegante Barockstadt. Sogar goldglänzend stürmt er auf dem Reiterstandbild am Elbufer voran.

In Augusts Auftrag schuf der Baumeister Matthias Daniel Pöppelmann das Residenzschloss, den Zwinger und das Schloss Pillnitz. Auch leitete er den Umbau von Schloss Moritzburg, das eine Ausstellung zu seinem diesjährigen 350. Geburtstag bietet. Bei der Fahrt dorthin ab Radebeul Ost mit der kräftig dampfenden Lößnitzgrundbahn – volkstümlich Lößnitzdackel – erfährt man lebendige Industriekultur.

Hotel statt Speicher

Das aus Ruinen auferstandene Dresden, das mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche und deren Umfeld an seine Geschichte anknüpft, bringt andererseits neues Leben in alte Industriebauten. So seit Ende 2016 in das 1994 stillgelegte Kraftwerk Mitte. Das Gelände mit seinen Backsteinbauten hat sich bereits zu einem Kunst-, Kultur- und Kreativstandort entwickelt.

Schneller war die private Maritim Hotelgesellschaft und verwandelte bis 2006 den 1914 errichteten Erlweinspeicher nach Entkernung in ein großzügig-modernes Hotel mit einem lichtdurchfluteten, schimmernden Atrium. Sie betreibt auch das benachbarte, 2004 eröffnete Internationale Congress Center Dresden mit dem weit auskragenden Vordach, entworfen vom Architekturbüro Storch Ehlers Partner aus Hannover. Zusammen mit dem Sächsischen Landtag, bestehend aus einem Altbau und dem von Peter Kulka 1994 hinzugefügten Neubau, ist am linken Elbufer unweit des Stadtzentrums ein zeitgemäßer, architektonisch gelungener Dreiklang entstanden. (Ursula Wiegand)

(Das Industriemuseum Chemnitz. Der gelbe Audi Typ C von 1913 und der grüne Horch von 1911. Das fliegende Auto TRACE - Fotos: Ursula Wiegand)

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