Freizeit und Reise

Zehntausende Stare sind verantwortlich für das grandiose Naturschauspiel „Schwarze Sonne“. (Foto: Friedrich H. Hettler)

26.09.2017

Von der Kaffeetafel zur „Schwarzen Sonne“

In Südjütland gibt es jede Menge Geschichte und Geschichten zu entdecken

Es ist ein grandioses Naturschauspiel und gleichzeitig kaum zu glauben, aber die Vogelschar besteht tatsächlich aus Hunderttausenden Staren. Es fehlen einem fast die Worte, um das Naturphänomen „Schwarze Sonne“ zu beschreiben. Fotos dieses Schauspiels sind zwar beeindruckend, aber dennoch unzulänglich – man muss es einfach mit eigenen Augen sehen und hören. Kurzum, man muss es mindestens einmal im Leben gesehen haben. Die „Schwarze Sonne“, auf Dänisch Sort sol, findet jedes Jahr im Frühling und Herbst in Südjütland statt. Denn zu diesen Jahreszeiten versammeln sich in der Luft über der Marsch, direkt über den Stellen, wo die kommende Nacht verbracht werden soll, bis zu einer Million Stare zu einem, wie Iver Gram von Dansk NaturSafari es zutreffend charakterisiert, Luftballett ohnegleichen – zum Naturereignis „Schwarze Sonne“. Es ist gut eine Stunde vor Sonnenuntergang. Iver lässt uns am Hang eines Deichs unseren Beobachtungsposten einnehmen, denn seine jahrelange Erfahrung sagt ihm, dass hier ein Teil des riesigen Stare-Schwarms herunterkommen wird. Trotz allem steigt die Spannung, denn je länger wir warten, fragen wir uns: „Kommen sie heute, und stehen wir auch an der richtigen Stelle?“ Man weiß es nie ganz genau, gibt Iver zu bedenken, denn die Stare lieben Ortswechsel. Allerdings ist er sich seiner Sache ziemlich sicher. Die Stare sind über die ganze Marschlandschaft verstreut – sie stehen da draußen und warten. Die Vögel kommen in die Marsch, um sich mit Larven und Käfern vollzufressen, die in den feuchten Wiesen in großen Mengen vorhanden sind. So specken die Stare ihr Gewicht von 70 auf 120 Gramm auf, erklärt uns Iver, um dann gut gerüstet in ihr Winterquartier im Süden fliegen zu können. Beim Fressen halten sie einen Abstand von 45 Zentimetern und beim Schlafen rücken sie bis auf sieben Zentimeter zusammen. „Sie sozialisieren sich beim Schlafen“, sagt Iver. Und dann, ganz plötzlich, kommen sie doch. Zuerst ein kleiner Schwarm, dann ein etwas größerer, ein großer und dann ein sehr großer Schwarm. Zehntausende, ja Hunderttausende von Staren. So geht es eine ganze Weile. Wie durch Zauberhand kommen sie aus dem Himmel. Ein unbeschreibliches Naturerlebnis. Endlich ist es so weit. Die Stare bilden eigentümliche Formationen in der Luft, fliegen, wie Iver es ausdrückt, wie ein einziger Organismus, der seine Gestalt andauernd verändert – wie eine riesige Amöbe, wobei die Flugbewegungen der einzelnen Vögel perfekt und präzise koordiniert sind. Dies alles sieht so aus, als ob uns die Stare beeindrucken wollen. In Wirklichkeit ist es laut Iver aber Ernst, ein Kampf auf Leben und Tod. Die vielen Stare ziehen nämlich Raubvögel wie Habichte, Falken oder Weihen an, die die Schwärme angreifen. Die wehren sich, indem sie sich zu eindrucksvollen Schwärmen formieren, wobei es darauf ankommt, so Iver, über und hinter die angreifenden Räuber zu kommen. Wenn eine Millionen Stare das gleichzeitig machen, entsteht das Naturschauspiel „Star“-Ballett.
Dieses Schauspiel kann laut Iver lange dauern, das hänge von der Energie der Stare, der Ausdauer der Räuber, den Witterungsbedingungen und nicht zuletzt der Lichtstärke ab. Wenn sich die ersten Stare ins Röhricht stürzen und unten bleiben, hat das auf ihre Artgenossen eine Art Sogwirkung, denn jetzt, man könnte sagen, „regnet“ es förmlich Stare auf dieselbe Stelle im Schilf vom Himmel und in wenigen Minuten ist der Lagerplatz voll. Die Schlafplätze sind für diese Nacht eingenommen. Allerdings dauert es noch geraume Zeit, bis Nachtruhe einkehrt, denn die Raubvögel stoßen auch jetzt noch vereinzelt nach unten, um Beute zu machen und scheuchen damit den Schwarm wieder hoch. Wir hatten Glück und Iver den richtigen Riecher mit seiner Standortwahl. Wir konnten die „Schwarze Sonne“ in all ihrer Schönheit verfolgen und bestaunen. Ein Erlebnis, das wir nie wieder vergessen werden. In Südjütland, das sich gleich hinter der deutschen Grenze zwischen Wattenmeer an der Nordsee und Fjordlandschaft an der Ostsee erstreckt, gibt es außer der „Schwarzen Sonne“ noch viel mehr zu sehen und zu entdecken. Wie zum Beispiel das Kunstmuseum in Tonder. Hier ist die beste Kunst der nordischen Länder von etwa 1880 bis heute ausgestellt. Das Museum zeigt darüber hinaus Sonderausstellungen, wie zum Beispiel „Henry Moore – Grenzen zum Norden“, die noch bis zum 3. Dezember 2017 zu sehen ist. Sie zeigt eine breite Auswahl von Werken des weltberühmten englischen Bildhauers Henry Moore. Die Ausstellung umfasst Skulpturen, grafische Arbeiten und Textilien. Darüber hinaus ist die Geschichte Tonders ein wichtiger Bestandteil des Museums.
Der interessantere Teil des Museums ist jedoch der Wasserturm, der heute als Museum für die Stühle des berühmten Möbelarchitekten Hans J. Wegner eingerichtet ist, die er der Stadt Tonder zum Geschenk gemacht hat. Das Geschenk besteht aus den 37 Stühlen, von denen er meinte, dass sie sein eigenes Design in seiner Geburtsstadt Tonder am besten repräsentieren würden. Wegner wurde 1914 als Sohn eines Schuhmachers im süddänischen Tonder geboren. Im Alter von 17 Jahren trat er eine Lehrstelle in der Tischlerei H.F. Stahlberg an, wo er sein erstes Möbelstück entwarf. Drei Jahre später zog er nach Kopenhagen, um die School of Arts and Crafts zu besuchen. Dort studierte er von 1936 bis 1938, bevor er eine Laufbahn als Architekt einschlug.
1940 initiierte er ein Gemeinschaftsprojekt mit Arne Jacobsen und Erik Møller in Aarhus, der zweitgrößten Stadt Dänemarks, zu dem auch die Gestaltung der Inneneinrichtung des Rathauses gehörte. Im selben Jahr begann Wegners Kooperation mit dem Tischlermeister Johannes Hansen, der maßgeblich daran beteiligt war, der dänischen Öffentlichkeit modernes Design näherzubringen.
1943 eröffnete Wegner sein eigenes Designstudio und ein Jahr später entwarf er den ersten „China Chair“ in einer Serie von Stühlen, deren Design vom Stil der chinesischen Ming-Dynastie inspiriert war. Der ebenfalls zu dieser Serie gehörende „Wishbone Chair“, der Wegners erfolgreichstes Objekt werden sollte, entstand 1949 und wird von Carl Hansen & Son seit 1950 kontinuierlich produziert. Wer lieber draußen an der frischen Luft ist und sich körperlich betätigen will, der sollte das Naturhistorische Museum Gram Lergrav in Gram besuchen. In Gram Lergrav kann man sich an der Suche nach Fossilien ausgestorbener Meerestiere beteiligen, die vor zehn Millionen Jahren im Grammeer lebten, das den größten Teil von Südjütland bedeckte. Im speziellen, steinfreien Lehm der Lehmgrube Gram Lergrav hat man Skelettreste von nicht weniger als 18 Walen gefunden. Darüber hinaus gibt es unzählige Muscheln und Schnecken im schwarzen Lehm. Wer hier graben und auf Jagd nach Fossilien gehen will, sollte Gummistiefel, praktische Kleidung und einen flachen Schraubenzieher zum Graben mitbringen. Der alte Meeresboden in der ehemaligen Lehmgrube ist ein Fenster zurück zu einer Zeit, in der unter anderem riesige prähistorische Haie und Wale dort lebten und jagten, erklärt Lars Petersen, der Museumsvermittler. Im Museum kann man die schönsten und seltensten Fossilien aus der Tongrube sehen. Das beeindruckendste ist Dänemarks größtes fossiles Skelett, das eines Wals. Aber hier gibt es auch noch andere aufregende Funde wie die ältesten Papageientaucher der Welt oder einen 16 Zentimeter großen Haifischzahn zu bestaunen. Geschichtsinteressierte sollten sich auf keinen Fall den Besuch von Schloss Sonderburg entgehen lassen. Das Schloss gehört zu den ältesten Profanbauten Südjütlands und war der namensgebende Stammsitz des Adelshauses Schleswig-Holstein-Sonderburg und der hieraus hervorgehenden Nebenlinien. Heute dient es als Museum der Geschichte Südjütlands und Nordschleswigs. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die steten Konflikte um Nordschleswig im 19. Jahrhundert – die Schleswigschen Kriege 1848 bis 1850 und 1864 – sowie auf die Folgen der beiden Weltkriege gelegt. Darüber hinaus spielen die Volksabstimmung(en) und die Wiedervereinigung 1920 eine beträchtliche Rolle – Südjütland gehörte nämlich von 1864 bis 1920 zum Deutschen Reich. Die sehr umfangreiche Ausstellung mit vielen Exponaten ist äußerst interessant und anschaulich konzipiert und gestaltet.
Im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg sind auch noch Teile der Sicherungsstellung Nord zu sehen. Die kaiserliche Armee begann 1916 den Bau der Sicherungsstellung Nord, einer Linie, die sich quer über Jütland erstreckte. Sie diente der Sicherung der ungeschützten deutschen Nordflanke gegen Angriffe. Die gesamte Linie bestand unter anderem aus 900 Bunkern, 33 Atilleriebatterien, Schützengräben und Stacheldrahthindernissen. Mitte 1917 zählte die Linie zu den stärksten Verteidigungslinien der Welt. Mit Politik hat auch eine echte südjütländische Institution zu tun: die Südjütländische Kaffeetafel, erzählt Schloss Sonderburgs Museumsinspektor René Rasmussen. Sie eine Kaffeetafel zu nennen, führt ein wenig in die Irre, weil das Bild weniger von Kaffee, als von dem vielen Kuchen geprägt wird. Weniger bekannt ist, dass sich hinter dem leckeren Backwerk eine ernstere Geschichte verbirgt, die bis in den dänischen Nationalitätenkampf in Südjütland zurückreicht. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 kam Südjütland unter deutsche Verwaltung, womit die dänisch gesinnten Südjütländer nicht zufrieden waren. Sie versammelten sich daher in den Gemeindehäusern, um Treffen abzuhalten und dänische Lieder zu singen, obwohl das offiziell eigentlich verboten war. Doch die deutschen Behörden wollten den Gemeindehäusern keine Schankrechte für Spirituosen geben, sodass es nicht möglich war, die Versammlungen mit dem traditionellen Kaffeepunsch zu beenden. Stattdessen begannen die Dänen, sich zur Kaffeetafel zu treffen. Dafür waren keine Schankrechte nötig und die Deutschen konnten nicht verhindern, dass die dänisch Gesinnten an den reich gedeckten Kuchentischen ihre Lieder sangen. Da kein Gemeindehaus über ausreichende Kapazitäten verfügte, um Kuchen für so viele Menschen zu backen, brachten viele einfach einen Kuchen mit. So gab es immer viele verschiedene Kuchen, darunter Kringel, Krapfen, Napfkuchen, Plattenkuchen, Torten und kleines Gebäck. Schnell entbrannte unter den Hausfrauen ein Wettstreit um den wohlschmeckendsten Kuchen, sodass die Südjütländische Kaffeetafel immer von hoher Qualität geprägt war und ist. Niederschlag fand die Südjütländische Kaffeetafel auch in einer Novelle von Siegfried Lenz, Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln, erzählt Rasmussen. Darin nimmt er die geradezu sprichwörtliche Opulenz der Kaffeetafel in seiner launigen Milieuschilderung aufs Korn. Eine südjütländische Spezialität ist auch das Solei. Die Eier werden als Leckerbissen zu Bier oder einem Schnaps serviert. Das Ei wird auf der langen Seite durchgeschnitten und das Eigelb herausgehoben. Dann streut man Salz und Pfeffer darüber, gießt Essig und Öl darauf und streicht eventuell auch Senf in die Vertiefung. Anschließend wird das Eigelb mit dem runden Ende nach oben zurückgelegt. Das halbe Ei wird schließlich mit den Fingern in einem Bissen gegessen. Mit einem guten Schnaps wird nachgespült. Na dann mal Prost Mahlzeit! (Friedrich H. Hettler) (Der Dom St. Marien in Haderslev. Bereits 1525 wurde St. Marien die erste evangelisch-lutherische Kirche in Dänemark. Die Lehmgrube von Gram Lergrav. Eine Batteriestellung der Sicherungsstellung Nord und das MG 08 in der Ausstellung von Schloss Sonderburg. Hans J. Wengers erfolgreichstes Stuhldesign, der "Wishbone Chair". Die Kaffeetafel und Soleier. Das prunkvolle Innere der Mögeltönder Kirche und die dänische Fahne im Wind - Fotos: Friedrich H. Hettler)



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