Kommunales

Im Asylrecht muss sich einiges tun. (Foto: dpa/Daniel Löb)

30.08.2024

Darum ist das Dublin-Abkommen ein Papiertiger

Überforderte Ausländerbehörden machen es Flüchtlingen leicht, die zu Unrecht hier sind

Der syrische Islamist, der in Solingen drei Menschen niederstach, hätte eigentlich gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen – so wie viele Tausende andere Asylbewerber, die über andere EU-Staaten einreisten. Doch auch aufgrund unterbesetzter kommunaler Ausländerbehörden können die bei den Abschiebungen geltenden Überstellungsfristen nicht eingehalten werden. Die Staatsregierung sieht den Bund in der Pflicht.

Viele Menschen dürften sich in den vergangenen Tagen gefragt haben, ob der islamistische Terroranschlag von Solingen hätte verhindert werden können. Am Freitag vergangener Woche hatte ein 26-jähriger syrischer Asylbewerber in der nordrhein-westfälichen Stadt drei Menschen mit einem Messer erstochen und acht weitere teils schwer verletzt. Die Antwort ist: wahrscheinlich. Zumindest dann, wenn im Umgang mit Asylbewerbenden endlich geltendes Recht umgesetzt würde. Denn der mutmaßliche Messermörder Issa Al H. hätte eigentlich längst abgeschoben werden müssen.

Issa Al H. war Ende 2022 nach Deutschland eingereist. Er stellte in Nordrhein-Westfalen einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte diesen allerdings ab. Denn der mutmaßliche Islamist war über Bulgarien in die Europäische Union eingereist – somit war nach EU-Asylrecht Bulgarien für ihn zuständig.

Abschiebung gescheitert

Das Dubliner Übereinkommen sieht vor, dass der EU-Staat, der einen Asylbewerber registriert, für diesen verantwortlich ist. Demnach hätte der Syrer gar nicht mehr in Deutschland sein sollen. Doch die Abschiebung nach Bulgarien durch die zuständige Ausländerbehörde scheiterte letztlich.

Das BAMF stellte am 7. Februar 2023 ein Übernahmeersuchen an Bulgarien – und Sofias Behörden stimmten zwei Wochen später zu, den jungen Mann wieder zurückzunehmen. Von diesem Zeitpunkt an hatten die deutschen Behörden ein halbes Jahr Zeit, ihn abzuschieben. Am 16. März 2023 ordnete das BAMF an, die Zentrale Ausländerbehörde in Bielefeld solle den in einer Notunterkunft in Paderborn lebenden Syrer abschieben. Doch die für den 5. Juni angesetzte Abschiebung 2023 scheiterte, weil Issa Al H., als die Beamten anrückten, nicht in seinem Zimmer war. Polizei und Ausländerbehörde unterließen anschließend laut Medienberichten jegliche weitere Anstrengungen, Issa Al H. zu finden – und so verstrich die sechsmonatige Überstellungsfrist. Wäre er als flüchtig gemeldet worden, hätte sich die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängert – doch eine solche Meldung unterblieb. Dazu hätte allerdings wohl auch intensiver nach dem Syrer gesucht werden müssen.

Issa Al H. ist kein Einzelfall. In Deutschland leben hunderttausende Asylbewerber, die in den vergangenen Jahren laut geltendem Recht eigentlich an ein anderes EU-Land überstellt werden hätten können, deren Abschiebungen jedoch scheiterte. Chronisch unterbesetzte Behörden, unkooperative EU-Staaten und ein mancherorts nicht allzu ausgeprägter Wille zu Abschiebungen sorgen dafür, dass Dublin seit vielen Jahren letztlich nicht viel mehr als ein Papiertiger ist, und Deutschland Millionen Flüchtlinge versorgt, während sich andere EU-Staaten der Verantwortung entziehen.

Fast 39.000 Rückführungen scheiterten

Die Bundesrepublik hat im vergangenen Jahr für knapp 75 000 Asylantragstellende ein Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten gestellt. Letztlich vollzogen wurden jedoch nur rund 5000 Überstellungen. Fast 39.000 Rückführungen scheiterten daran, dass hiesigen Behörden die Überstellungsfrist von einem halben Jahr nicht einhalten konnten. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht: In der ersten Hälfte dieses Jahres sind laut BAMF 40.000 Übernahmeersuchen an andere EU-Länder gestellt worden. In 25 000 Fällen stimmten diese zu. Zu Überstellungen kam es allerdings lediglich in gut 3500 Fällen.

Nur ein kleinerer Teil der eigentlich Ausreisepflichtigen taucht tatsächlich über Monate hinweg unter. Oft reicht es, wenn sie einmal nicht anzutreffen sind oder die Ausländerbehörde versucht erst gar nicht, sie abzuschieben. Die Asylbewerbenden kennen die Fallstricke des Asylrechts in der Regel genau: diverse Flüchtlingsorganisationen geben Tipps, wie man der Abschiebung entgehen kann.

Auch im Freistaat ist das Problem virulent. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es laut Innenministerium bayernweit 5612 Übernahmeersuche. In 3208 davon hätten die EU-Staaten zugestimmt, doch nur in 540 Fällen kam es zu Überstellungen. Nur in jedem zehnten Fall wurde der zu Unrecht hier lebende Migrant demnach abgeschoben. Im ersten Halbjahr 2023 gab es mit 445 sogar noch weniger erfolgreiche Überstellungen aus dem Freistaat. Dabei war die Zahl der Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten mit 6556 sogar noch höher.

Rund 12.300 und damit knapp ein Sechstel der bundesweiten Übernahmeersuche kamen 2023 aus Bayern – in rund 9800 stimmten die ausländischen Staaten zu, in 847 kam es zu Überstellungen. Die Schuld für die niedrige Erfolgsquote sieht das CSU-geführte bayerische Innenministerium beim Bund sowie anderen EU-Staaten. „Überstellungen nach der Dublin-III-Verordnung sind in vielen Mitgliedstaaten nicht oder nur eingeschränkt möglich, weil unter anderem rechtliche Hindernisse bestehen, an deren Beseitigung nicht konsequent gearbeitet wird“, sagt eine Ministeriumssprecherin der Staatszeitung.

Unwillige EU-Staaten

Viele EU-Staaten sind unwillig oder unfähig die Flüchtlinge zurückzunehmen. Immer wieder verhindern Gerichte Abschiebungen in bestimmte Länder wie Griechenland, weil die Flüchtlinge dort nicht menschenwürdig untergebracht wurden. Auch stellten EU-Mitgliedstaaten „sehr strenge Vorgaben auf, die bei der Durchführung von Dublin-Überstellungen zu beachten sind“, sagt die Sprecherin. Sie berichtet von „häufig kurzfristig wechselnden Sperrtagen, an denen keine Überstellung erfolgen darf, sowie engen Zeitfenstern, in denen die Flüge ankommen dürfen“.

Im Ministerium ärgert man sich vor allem über Italien, das sich seit Ende 2022, generell weigert, Asylbewerber im Dublin-Verfahren zurückzunehmen. „Das ist ein schwerer Verstoß gegen geltendes europäisches Recht, gegen den die Bundesregierung nichts Wirksames unternimmt“, sagt die Sprecherin. Für sie ist klar: „Die Bundesregierung muss sich endlich effektiv für eine nachhaltige Verbesserung der Kooperationsbereitschaft und die Herstellung der tatsächlichen Rücknahmebereitschaft aller Mitgliedstaaten einsetzen, damit das derzeit geltende Recht auch tatsächlich vollzogen werden kann.“
(Tobias Lill)

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