Kommunales

Innerhalb weniger Augenblicke verwandelte sich der beschauliche Ort an der bayerisch-österreichischen Grenze in ein Bild des Grauens. (Foto: dpa)

24.11.2016

Der Dreck verschwindet, der Schmerz bleibt

Vor sechs Monaten rauschte eine tödliche Schlammwelle durch Simbach. Der Aufbau der Häuser kommt voran, doch manche Menschen leiden weiter unter dem Gefühl, ihnen steige kaltes Wasser die Beine hoch.

Mit gebeugtem Rücken schiebt Georg Mitterer sein Rad im strömenden Regen zu seinem ehemaligen Plattenladen in Simbach am Inn. Die Hüfte des 66-Jährigen schmerzt vom fortlaufenden Aufräumen nach der Flutkatastrophe. Ein halbes Jahr ist es jetzt her. Am 1. Juni war die Schlammwelle durch den niederbayerischen Ort gerauscht.

Inzwischen sind die Eingänge seines nostalgischen Ladens, in dem Mitterer Vinylplatten verkauft hatte, mit Spanholzplatten versperrt - Einsturzgefahr. Nur wenige schwarze LPs stehen vor dem ehemaligen Schaufenster. Mitterer nimmt sie widerwillig in die Hand. Auflegen und genießen kann man sie eh nicht mehr, sagt sein Blick. Der Verlust seiner Existenz nach 37 Jahren schmerzt - ähnlich wie der Körper.

Nur durch Zufall hat der 66-Jährige die Flutwelle überlebt. Er war im Urlaub, als nach stundenlangem Gewitterregen der nur wenige Meter entfernte Simbach zu einem tödlichen Strom anschwoll. Der Bach hatte sich erst aufgestaut. Als ein Damm brach, rissen die Wassermassen in einer Sturzwelle auch das Holzlager eines Sägewerkes mit durch den 10 000 Einwohner zählenden Ort. Sieben Menschen ertranken. 500 Häuser wurden zerstört. Der Schaden beträgt mehr als eine Milliarde Euro.

Allein mit den Erinnerungen


"Ein Nachbar hat mir berichtet, dass der Laden innerhalb weniger Sekunden geflutet wurde. Jeder, der im Geschäft gestanden hätte, wäre tot gewesen", schildert Mitterer. Seine Urlaubsvertretung kam zum Glück zu spät zur Arbeit. Sie stand nicht wie sonst hinter der Verkaufstheke. "Das hätte ich mir niemals verziehen, wenn ein Mensch in meinem Laden ertrunken wäre", sagt er.

Tagelang hatte halb Deutschland mit den Menschen in Simbach gelitten. Die Idee, dass Wasser so unerwartet und gewaltsam alles überrollen kann, erschütterte viele. Und fast jeder kannte zumindest den Namen des idyllischen Ortes an der Grenze zu Österreich. Ein halbes Jahr später sind die Flutopfer zumeist allein mit ihren Erinnerungen. Sie reden nur mit Nachbarn oder ihrem Psychiater über die schlimmste Katastrophe ihres Lebens.

Georg Mitterer beobachtet neben seinem zerstörten Geschäft die Bauarbeiten. Er scherzt ab und zu mit dem Arbeiter, der einen Türrahmen zumauert. Wie eine Schallplatte mit einem Sprung betont der 66-Jährige in Dauerschleife: Der Verlust habe ja nur materiellen Wert. "Jetzt gilt es aufzuräumen und aufzubauen."

Dieses Verhalten und solche Sätze seien typisch für die vergangenen Monate in Simbach, sagt der Psychologe Roland Moser. Das Motto der Menschen laute: "Erst das Materielle reparieren, dann die Seele." Der 57-Jährige steht an dem verregneten Morgen vor zwei Baucontainern auf dem Kirchplatz, die den Helfern vom Roten Kreuz als Büro dienen. Er hat wenig Zeit, will gleich weiter und einer älteren, nicht mehr ganz mobilen Frau beim Großeinkauf helfen.

Akute Belastungsstörungen


Moser ist nicht nur als zupackende Hand gefragt, sondern auch als Zuhörer und Ratgeber. Die Menschen reden sich bei ihm die schlimmsten Sorgen von der Seele. Drei Jahre hat er für diese Aufgabe Zeit bekommen. Moser ist aber skeptisch, dass das ausreicht. "Ein viertes Jahr wird bestimmt nötig sein", sagt er besorgt.

Denn unser Seelenleben ist eine heikle Sache: Das Gleichgewicht kann in wenigen Minuten beschädigt sein. Das Heilen jedoch geht - auch in schnelllebigen Zeiten - oft nur im Kriechtempo.

"Momentan wird die emotionale Situation überdeckt durch das viele Arbeiten", erläutert Moser. Er hat selbst in Simbach sein Antiquariat in den Fluten verloren. "Dann kommt es zur Ruhe, und in dieser Ruhe werden dann die seelischen Störungen viel deutlicher wahrgenommen."

Manche Menschen berichten ihm von akuten Belastungsstörungen, von Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Panikattacken. "Die Menschen haben plötzlich einfach das Gefühl, mit dem Leben so nicht mehr fertig zu werden." Mit Blick auf den ersten Weihnachtsschmuck in der Stadt verdunkelt sich seine Miene. "Natürlich ist die Hoffnung bei vielen, bis zum Fest in der Wohnung zurück zu sein. Das wird sich aber für viele nicht realisieren lassen."

Erfahrungen  vom Jahrhunderthochwasser in Deggendorf


Der Profi-Helfer kann sich auf die Erfahrungen der Notfallseelsorger nach dem Jahrhunderthochwasser im Raum Deggendorf stützen. Vor dreieinhalb Jahren, im Juni 2013, war dort ein Damm der Isar gebrochen. Der Stadtteil Fischerdorf stand mehr als drei Meter unter Wasser.

Die damals betroffene Region ist gut eine Autostunde entfernt. Doch egal wo ein Unglücksort liegt: Die psychischen Belastungen und das, was den Opfern hilft, sind in der Anfangsphase nahezu gleich: "In der Akutphase geht es immer darum, den Menschen Stabilität und Sicherheit zu geben", berichtet Reiner Fleischmann. Der Diakon aus Regensburg hat schon an den unterschiedlichsten Plätzen erlebt, was Menschen nach solchen Katastrophen belastet.

Er ist seit 17 Jahren Seelsorger, hat sich um Hinterbliebene nach dem Amoklauf in Erfurt 2002, nach dem Transrapid-Unglück im Emsland 2006 und dem Seilbahn-Unglück im österreichischen Kaprun vor 16 Jahren gekümmert. Der 52-Jährige betreute auch viele junge Menschen nach der Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg 2010. Seit mehr als drei Jahren steht er nun mit dem Malteser Hilfsdienst den Flutopfern von Fischerdorf bei.

Der Zeitfaktor macht den Unterschied


Der Unterschied von Hochwasserkatastrophen zu vielen anderen Unglücken ist der Zeitfaktor: Das Ereignis und die Folgen - beides kann dauern. "Es ist schwierig, wenn es sich sehr lange hinzieht. Wenn die Menschen lange unter dem Begriff Katastrophenfall leben, evakuiert sind", sagt Fleischmann.

Zudem könnten die Schreckensorte nach einem Amoklauf oder einem Zugunglück gemieden werde, "was viele Betroffene auch machen." Eine Flut jedoch trifft das eigene Zuhause. Deshalb ist nach einem Hochwasser diese Art der Verdrängung nicht so leicht möglich. "Die Menschen in Fischerdorf haben gesagt: Das ist mein Heimatdorf." Also räumten sie den Müll weg, bauten ihre Häuser neu auf, zogen ein und schlafen nun im ersten Stock, weil es so Vorschrift ist.

"Und dann kommt ein heftiges Unwetter. Sie wachen auf, teilweise schweißgebadet, teilweise mit Schüttelfrost und laufen nach unten und schauen, ob Wasser da ist. Die Bilder, die Jahre zurückliegen, sind weiter in ihnen", schildert Fleischmann. Es ist eine ständige, über Monate und Jahre andauernde Grundbelastung.

Und so haben die Bilder aus Simbach bei den Fischerdorfern böse Erinnerungen hochgespült. Für manche scheint die lange psychologische Betreuung im Sommer 2016 quasi den Bach runtergegangen. Fast auf den Tag drei Jahre nach der eigenen Katastrophe sehen sie in Zeitungen und im Fernsehen erneut die zerstörerische Kraft des Wassers.

Hilfe für die Psyche läuft erst an


Viele Fischerdorfer eilten als Helfer nach Simbach, wollten etwas von der selbst erlebten Solidarität zurückgeben. Sie pumpten Wasser, schleppten Schlamm mit Schaufeln und Eimern aus den Häusern. "Die Männer und Frauen waren gezeichnet, durchlebten ihre eigene Katastrophe zum zweiten Mal, als wäre es gestern gewesen", sagt Fleischmann. Bei vielen seien Bilder wieder hochgekommen, von denen sie dachten, das mache ihnen nichts mehr aus.

In Simbach läuft das Hilfsprogramm für die überschwemmten Seelen dagegen erst richtig an. Die Psychiaterin Margarete Liebmann hat seit dem Sommer etwa 40 Betroffene behandelt. Für 25 Menschen ist sie regelmäßig der wichtigste Ansprechpartner, sie schütten ihre Sorgen bei ihr aus. "Das ist aber erst der Anfang. In jeder Sitzung schildern meine Patienten, dass es ihren Nachbarn ähnlich geht", sagt die Leitende Oberärztin im Ameos Klinikum im Ort.

Liebmann findet ein starkes Bild für die Leiden der Flutopfer: Die schrecklichen Sekunden sind wie eingefroren und blitzen in der Erinnerung der Menschen immer wieder auf. Das restliche Leben tritt dann in den Hintergrund. Die Menschen haben das Gefühl, ihr Leben ist weggeschwommen, das Sicherheitsgefühl, die Geborgenheit, alles weg.

"Manche haben mir berichtet, dass sie sogar das Gefühl haben, dass ihnen das kalte Wasser an den Beinen hochläuft." Dabei streicht die Psychiaterin mit beiden Hände an ihren Beinen hoch.

Depressionssymptome


An einem Donnerstagabend steht die Ärztin in einem kleinen Raum des Klinikums und hält einen Vortrag zu möglichen seelischen Folgen der Flut. Sie weist die Zuhörer aus Simbach auf Symptome hin, die auf eine Depression deuten könnten. Auf eine Schautafel schreibt sie mit roten und schwarzen Stiften Begriffe wie: Probleme beim Einschlafen und Durchschlafen, dauerhaftes Grübeln, schlechte Laune, keine Freude mehr empfinden. "Wer das Trauma jetzt nicht behandelt, wird nach Jahren oder Jahrzehnten Probleme bekommen, wenn neue Sorgen auftreten", mahnt sie.

Ein älterer Mann steht plötzlich auf und erzählt, dass ihm drei Tage nach seiner Rettung in der Erinnerung fehlten. Das sei nicht so beunruhigend, beschwichtigt Liebmann und lächelt den Mann sanft an. Solche Konzentrationsstörungen seien lediglich eine Schutzfunktion des Körpers und gingen wieder weg. Der Mann ist nicht so richtig überzeugt. Er fragt nach einem Termin für eine persönliche Beratung.

Zuvor gibt Liebmann den Gästen noch Ratschläge für daheim: Zwei mal täglich Arme und Hände kräftig auszuschütteln, um die Daueranspannung zu lösen. "So wie es ein nasser Hund macht", zeigt die Psychiaterin und schüttelt sich einmal kräftig durch. Dann bittet Liebmann eine Frau, sich auf den Schreibtisch zu setzen und beginnt deren Rücken auszuklopfen. "Das hilft gegen das Gefühl der inneren Unruhe." Die Frau ist skeptisch: "Das tut jetzt aber schon ein bisschen weh", sagt sie, lässt es aber geschehen.

Pläne machen für die Zukunft


"Außerdem sollten Sie zu festgelegten Terminen das Thema Flut mal aussparen und über etwas anderes reden. Und sich den Lieblingstee oder Kakao machen." Einen Einkaufstipp hat sie auch noch: "Kaufen Sie sich ein sehr besonderes, sehr persönliches Kleidungsstück. Das bietet Schutz."

Die Psychiaterin hatte sich am 1. Juni selbst in letzter Minute aus ihrer Wohnung in Simbach im Erdgeschoss retten können. "Wir haben erst ein Rauschen gehört und dann gesehen, wie Autos auf der Straße wie Spielzeuge weggepurzelt sind. Dann sprudelte auch schon das Wasser durch das Parkett." Ihr Mann konnte mit letzter Kraft die Wohnungstür aufdrücken. Sie schafften es in die erste Etage. "In 20 Minuten war alles vollgelaufen. Dann war es ganz still, und wir wurden später mit Booten gerettet."

Liebmann hat ein Ziel: "Ich will in fünf bis zehn Jahren wieder durch Simbach gehen und in lächelnde Gesichter blicken." Helfen könnten dabei auch die Pläne der Stadt, den Ort in Teilen völlig neu zu planen und wiederaufzubauen. Bei einer Bürgerversammlung hatten der Bürgermeister und ein Städteplaner ihre Vorstellungen erläutert.

Auch Georg Mitterer verfolgt die Pläne gespannt, ist aber skeptisch. Er muss sich jetzt nach einem neuen Laden umsehen. Dabei wollte er eigentlich in Rente gehen, hatte Käufer für sein altes Geschäft gesucht. Dann zerstörte die Flut den Plattenladen. Schaden: rund 100 000 Euro. "Die staatliche Hilfe von 80 Prozent wird aber nur für den Wiederaufbau gegeben. Jetzt muss ich weitermachen. Ich bin verpflichtet, neu anzufangen. Sonst gibt es kein Geld", sagt der 66-Jährige mit Wut im Bauch.

Spätestens im Februar will er im neuen Geschäft am neuen Ort starten. "Ich hätte viel zu viel Angst, neben dem Simbach wieder einen Laden zu eröffnen. Es ist mein drittes Hochwasser gewesen. Das reicht." Dabei verzieht er das Gesicht etwas gequält, kehrt seinem zerstörten Geschäft den Rücken und schiebt das Rad über eine Brücke. Darunter fließt der Simbach, der heute ein harmloses Rinnsal ist. (André Jahnke, dpa)

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