Den Himmel, sagt die katholische Lehre – anders als bei den Evangelischen –, kann man sich auch durch gute Taten verdienen. Gottfried Roth aus Weichering im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen ist seit mehr als 50 Jahren dafür verantwortlich, dass die Turmuhr der Pfarrkirche St. Vitus in seinem 2500-Seelen-Ort richtig geht. Und das tut sie.
Wie ein „junger Gott“, um es etwas flapsig auszudrücken, nimmt der rüstige 72-Jährige die 48 Stufen auf die „Mitteletage“ des Kirchturms, wo sich das Uhr- und Schlagwerk befindet. Und dann erklärt Gottfried Roth das technische Meisterwerk, das seit genau 113 Jahren seinen Dienst tut. Denn ein kurzer handschriftlicher Vermerk an der Flügeltür des Uhrwerkkastens verrät: „Diese Uhr wurde aufgestellt von dem Monteur Joh. Hammel aus München vom 12. bis 22. Oktober 1902.“
„Ein Uhrwerk“, so klärt Roth auf, „bezeichnet den gesamten Mechanismus im Inneren einer Uhr.“ Im Gegensatz zu einem Schlagwerk, das ein selbstständiger Mechanismus in einer Räderuhr ist. Roths tägliche Aufgabe ist es nun, die mechanische Kirchturmuhr aufzuziehen, zu pflegen und zu warten. Pflegen heißt in diesem Fall, die Unruh (das ist ein Bauteil eines mechanischen Uhrwerks, das sozusagen als Gangregler dient), alle zwei bis drei Tage mit einem dünnflüssigen Fahrradöl quasi zu salben. Alle zwei Wochen müssen außerdem bestimmte Lager und laufende Räder geölt werden. Und das Schlagwerk der Kirchturmuhr muss sich einmal im Jahr einer Roth’schen Untersuchung unterziehen.
Zuvor hatte der Vater das Amt inne
An seinen ersten Tag als Weicheringer „Unruhegeist“ erinnert sich Gottfried Roth noch ganz genau. Kein Wunder: Denn an jenem 21. August 1965 trat sein Bruder Julius vor den Traualtar. Zuvor, seit den 1930er Jahren, hatte Gottfrieds Vater Johann die Aufgabe des Kirchturmuhraufziehers inne. Und wenn der einmal aus irgendeinem Grund nicht konnte, wurde er abwechselnd von einem seiner sechs Söhne Theo, Johann, Anton, Konrad, Julius oder eben Gottfried vertreten – ehe ein Wort des gestrengen Vaters den damals 22-jährigen Gottfried dazu bestimmte, seine dauerhafte Nachfolge anzutreten.
Vater Johann, der zugleich 2. Bürgermeister der Gemeinde Weichering und Mesner von St. Vitus war, bestimmte deshalb seinen Jüngsten zu seinem Nachfolger, weil die fünf anderen Buben aus Weichering weggezogen waren oder aus Zeitgründen die Tätigkeit des Uhraufziehens nicht mehr verrichten konnten.
Bereut hat er den Ruf seines Vaters noch kein einziges Mal. Seit nunmehr 50 Jahren, das sind mehr als 18 000 Tage, hat Gottfried Roth höchstens 200 Mal „geschwänzt“. „Wenn ich nicht da bin, und das kommt ja ganz selten vor, dann vertritt mich mein Bruder Konrad oder meine Frau und von meinen drei Söhnen vorwiegend der Benedikt“, sagt Roth schmunzelnd.
So fährt Gottfried Roth jeden Tag mit seinem Fahrrad die 300 Meter von zu Hause in die Kirche, bei Wind und Wetter. Es sei denn, dass es soviel geschneit hat, dass er lieber zu Fuß geht. Am Schlag- und Uhrwerk sind es immer die selben Griffe, die getan werden müssen. „Das ist Routine“, verrät Roth. Dennoch „braucht es schon ein wenig handwerkliches Geschick, und natürlich ein technisches Interesse für das Uhrwerk an sich.“
In all den Jahren lief das Uhrwerk im wahrsten Sinne des Wortes wie geschmiert. Nur im Jahr 2005 musste ein defektes Lager ausgetauscht werden. Die Einwohner Weicherings mussten zwei Tage lang ohne ihr vielstimmiges Glockengeläut auskommen.
Pro Tag gibt es ein kleines Bier als Honorar
Dass sich der ehemalige Bundeswehr-Angestellte täglich um sein Werk kümmern und die Uhr aufziehen muss, liegt daran, dass das Uhrwerk längstens 40 Stunden und die Schlagwerke maximal 30 Stunden laufen. „In dieser Zeit muss die Uhr aufgezogen werden“, erklärt Roth, „ich mach’ das meistens abends.“
Wenn heuer im Herbst wieder die Sommerzeit endet und die Uhr nachts von 3 Uhr auf 2 Uhr zurückgestellt wird, dann muss Gottfried Roth eine Überstunde einlegen, denn er muss das Pendel der Uhr anhalten, damit es nicht weiterläuft. Ob er die zusätzliche Stunde in der Kirche verharrt oder doch schnell heim radelt, darüber hat sich Roth heuer noch keine Gedanken gemacht.
Spitzbübisch erzählt Roth dann noch, dass er das Aufziehen der Uhr doch nicht ganz ehrenamtlich macht. „Ich habe damals, vor 50 Jahren, mit der Gemeinde vereinbart, dass ich pro Tag umgerechnet ein kleines Bier als Honorar bekomme. Sie können sich selbst ausrechnen, was das im Monat ausmacht. Ich sage Ihnen wieviel. Mehr als 30 Euro im Monat sind es nicht.“ Die 30 kleinen Biere wird die Ortskasse locker verkraften können; der Gemeinde gehört nämlich das Uhr- und Schlagwerk, während die Glocken Kircheneigentum sind.
Das Dreiläuten ist eine lokale Besonderheit
Das Ungewöhnliche an der Pfarrkirche St. Vitus ist, dass sie die einzige im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen ist, deren Uhrwerk per Hand aufgezogen wird. „Viele Kirchturmuhren wird es in Bayern davon wohl nicht mehr geben“, mutmaßt Roth.
Und eine weitere Besonderheit gibt es auch noch in Weichering: das sogenannte Dreiläuten. Dabei wird von Georgi (23. April) bis Michaeli (29. September) jeweils um 16 Uhr und von Michaeli bis Georgi jeweils um 15 Uhr mit zwei Glocken nacheinander geläutet. Der Ursprung dieser Eigenheit geht zurück bis Anfang des 16. Jahrhunderts.
Hat er es denn jemals für möglich gehalten, 50 Jahre lang seinen Dienst am Uhr- und Schlagwerk zu tun? „Nein“, erwidert der Senior, „eigentlich sollte schon vor 40 Jahren schon Schluss sein“, verrät Roth. Denn damals wurde mit dem Gedanken gespielt, ein automatisches Uhrwerk anzuschaffen. Doch als die Gemeindemitglieder erfuhren, dass die Kosten für die Anschaffung teuer und die Wartung aufwendig und dadurch kostspielig sein würde, durfte Gottfried Roth weitermachen – bis zum heutigen Tag. „Logisch, weil es ja auch eine billige Lösung war.“
Natürlich stellt sich die Frage, wie lange Gottfried Roth den Dienst in der Pfarrkiche noch verrichten will. Seine Antwort ist wahrlich keine Überraschung: „Ich mache das, so lange ich kann.“ Kaum hat er diese Worte gesprochen, nimmt er die 48 Stufen hinunter so hurtig wie ein Jüngling. (Dieter Warnick)
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