Bisher war es so: Wohnungslose Menschen mussten erst eine Menge Voraussetzungen erfüllen, bevor Sozialarbeiter darangingen, ihnen zu einer Wohnung zu verhelfen. Eigentlich ist das absurd. Ist eine Wohnung doch in vielerlei Hinsicht die Voraussetzung dafür, dass man seine Probleme anpacken kann. Zum Beispiel Überschuldung oder Sucht. Aus dieser Überlegung heraus entstand die Bewegung „Housing First“. Drei Projekte gibt es in Bayern: in Würzburg, Nürnberg und Kronach.
In Deutschland existiert Housing First seit genau zehn Jahren. 2015 ging das erste Projekt in Düsseldorf an den Start. Obwohl inzwischen reichlich Erfahrungen gesammelt wurden, bleibt die Sache bis heute heikel. Sollte man jemanden, der jahrelang auf der Straße hauste, als Vermieter in die eigenen, freien Räume lassen? Können Wohnungslose nach Jahren überhaupt noch wohnen? Irgendwo einzuziehen bedeutet ja schließlich nicht, dass man nun tun und lassen könnte, was einem beliebt. Die Wohnung muss in Ordnung gehalten werden. Und man sollte sich so benehmen, dass es die Nachbarn nicht stört.
"Ein Unding"
Viele Vermieter trauen dies Menschen ohne fester Bleibe schlicht nicht zu. „Für einen Wohnungslosen ist es deshalb fast ein Unding, aus eigener Kraft eine Wohnung zu finden“, bestätigt Nadia Fiedler von der Christophorus-Gesellschaft, die das Würzburger Housing-First-Projekt namens „Noah“ trägt.
Projektleiter Jan Bläsing kennt die Bedenken von Vermietern nur zu gut. Er und sein Team, das im April 2022 an den Start ging, machten sich im Vorfeld der ersten Vermittlungen denn auch viele Gedanken, wie mit Konflikten umgegangen werden könnte. Bisher gab es jedoch kein einziges Beispiel dafür, dass sich ein ehemals Wohnungsloser nach dem Einzug in eine vermittelte Wohnung danebenbenommen hätte. „Noch niemand hat die Wände demoliert oder die Küche rausgerissen, jeder schaut, dass er es in seiner eigenen Wohnung schön hat“, beteuert Sozialarbeiterin Sabine Märkle vom Noah-Team.
Der Erfolg gibt dem Projekt recht: Männer und Frauen, die jahrelang keine eigene Bleibe hatten, die ihr Dasein in Notunterkünften oder im Freien fristeten, werden wieder aktionsfähig, haben sie endlich eigene Räume. Dem Konzept von Housing First zufolge werden die Klienten vor dem Einzug, beim Einzug und vor allem danach sozialarbeiterisch begleitet.
Sozialarbeiter bauen Ängste ab
Egal, um welches Problem es sich handelt: Die Sozialarbeiter sind da und unterstützen. Ein Hauptproblem besteht in aller Regel darin, dass ein Job gefunden werden muss. Aber auch Suchterkrankungen sind weitverbreitet. Eine Wohnung kann einen wesentlichen Beitrag leisten, um eine Abhängigkeit zu bezwingen – so geschehen etwa in Würzburg. Ein Klient, der niemals eingesehen hätte, warum er sich sein elendes Dasein als Wohnungsloser nicht mithilfe von Alkohol ein kleines bisschen versüßen sollte, ist seit dem Einzug in eine von Noah vermittelte Wohnung Ende 2023 abstinent. Seit eineinhalb Jahren schon trinkt er keinen Tropfen mehr.
Gerade die Notunterkunft wird von Wohnungslosen oft als Albtraum erlebt. Ein Bewohner des Würzburger Obdachlosenasyls erzählt davon. Man werde „wie ein Tier behandelt“, sagt der Mann mehrmals im Gespräch. Gezwungenermaßen muss er seit einem Knastaufenthalt ein Zimmer mit einem anderen nach dem Ordnungsrecht untergebrachten Menschen im Obdachlosenasyl teilen. Im wirklichen Leben würde er mit diesem Zeitgenossen niemals auch nur einen Kaffee trinken gehen. Der Mann schaut, dass er so wenig wie möglich in seinem Zimmer ist. Andere „Berber“ weigern sich von vornherein, ins Heim zu ziehen.
„Ich will nicht sterben!“
Das ist nicht nur in Würzburg so. Karola Pörschke vom Housing-First-Projekt in Nürnberg, das an den Verein „Straßenkreuzer“ angedockt ist, berichtet von einem jungen Mann, der mehrere Jahre in einem Zelt im Wald gelebt hatte – bis er endlich durch Housing First zu einer eigenen Bude kam. Andere Klienten wechselten jahrelang zwischen Kurzhaft, Straße, irgendeiner Art von Wohnen und neuerlicher Inhaftierung. Pörschke erinnert sich an einen älteren Herrn, der zehn Jahre lang im Obdachlosenasyl wohnte und immer wieder vorbrachte: „Ich will hier nicht sterben!“
Betrachtet man die enorme Zahl der Wohnungslosen, ist Housing First freilich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Mehr als 51 000 Männer, Frauen und Kinder haben in Bayern kein eigenes Dach über dem Kopf. Vor allem viele junge Leute sind betroffen. Laut Michaela Seybold vom bayerischen Sozialministerium würden bis zu 2 400 dieser Menschen von Housing First profitieren.
In Würzburg, weiß Jan Bläsing, sind im Moment 580 Menschen ordnungsrechtlich untergebracht: „So viele wie noch nie zuvor.“ Mit seinem Team hat er es bisher geschafft, 13 Menschen in elf Wohnungen zu vermitteln. In Nürnberg sind es 21. Ein weiteres Projekt wurde im Dezember 2022 von der Caritas im Landkreis Kronach gegründet. Ein kommunales Wohnungsunternehmen stellte zum Start sechs Wohnungen zur Verfügung.
Mitte Dezember lief nun die Förderung durch das Sozialministerium aus. Im Augenblick finanziert die Caritas die Arbeit allein. Gleichzeitig verhandelt der Verband mit der Kommune über eine Mitfinanzierung.
Ein Traum wäre es für die Organisation, würde in Kronach gelingen, was inzwischen in Nürnberg erreicht wurde: Dort ist Housing First endlich regelfinanziert. Für Janet Januszewski vom Team der Wohnungslosenhilfe ist Housing First auch für Kronach essenziell. 150 Wohnungslose seien letztes Jahr von der Caritas beraten worden: „Daraus ergeben sich immer wieder Anfragen bezüglich Housing First.“ Elf Klienten werden aktuell begleitet. Mehr aufzunehmen, wäre aus personellen Gründen nicht möglich.
Von Sofa zu Sofa
Doch viel mehr Menschen sind in Not, denn auch in Kronach schlagen die Mieten gewaltig zu Buche. Unter 9 Euro pro Quadratmeter ist laut Janet Januszewski praktisch nichts zu finden. Was auf dem Wohnungsmarkt angeboten wird, liegt fast immer über den Mietkostengrenzen des Jobcenters. In Kronach führt dies der Leiterin des HousingFirst-Projekts zufolge vor allem zu versteckter Wohnungslosigkeit. Mal kriecht man bei einem Kumpel unter. Mal nistet man sich bei einem Verwandten ein: „Man hüpft von Sofa zu Sofa“, so Januszewski.
Unter den elf Klienten ist ein psychisch kranker Bürgergeldempfänger Anfang 50, der nach dem Tod der Mutter, mit der er zusammengelebt hatte, seine Bleibe verlor. Auch er schlüpfte danach bei Bekannten unter. Konflikte waren programmiert: „Die Situation hat sich zugespitzt, sodass er auf der Straße landete.“
Danach schlief der Mann im Vorraum einer Sparkasse. Irgendwann fasste er Mut und ging zur Caritas, um sich beraten zu lassen. Dort konnte man ihm eine Wohnung vermitteln. Seitdem geht es für den Kronacher aufwärts. Vor allem leidet er nicht mehr so stark wie zuvor unter Angstzuständen.
Ohne Housing First hätte keiner der bisher in Bayern aufgenommenen Klienten auch nur den Hauch einer Chance auf dem Wohnungsmarkt gehabt. Wohnungslose können weder hohe Mieten zahlen, noch Gebühren oder Kautionen vorstrecken. Die Teams von Housing First akquirieren deshalb Wohnungen für ihre Klienten. Jede einzelne sei ein Kampf, berichtet Jan Bläsing aus Würzburg.
Zum Glück kommt manchmal der Zufall zu Hilfe. So begegnete dem Team letztes Jahr auf dem Stadtfest ein privater Vermieter, der interessant fand, was das Team über sein Projekt berichtete. Volker Held heißt der Mann. Er hörte sich alles an. Ging dann mit seiner Frau erst mal einen Kaffee trinken. Kehrte zurück und sagte: „Ich will einem Wohnungslosen eine Chance geben!“ Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, berichtet er, sei alles „kinderleicht“ gewesen. Das Team sei bestens organisiert, habe alles in die Wege geleitet.
Sein neuer Mieter sei ein ganz normaler Mensch. In der Nachbarschaft falle er überhaupt nicht auf. Verlassen kann sich jeder Vermieter darauf, dass das Team eines Housing-First-Projekts nicht irgendjemanden anbringt. Der Klient respektive die Klientin ist gut bekannt. Alle werden sorgfältig ausgewählt. Auswahl ist auch notwendig, da die Nachfrage das Angebot weit übersteigt. Von den vielen Wohnungslosen, die in Würzburg, Nürnberg oder Kronach anklopfen, wird nur ein Bruchteil überhaupt auf die Warteliste gesetzt. In Würzburg etwa trudelten bisher fast 700 Anfragen ein. (Pat Christ)
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