Täglich kommen in Bayern mehr als 10 000 neue Geflüchtete aus der Ukraine an. Die Kommunen stoßen bei der Versorgung der Menschen an ihre Kapazitätsgrenzen. Und als wäre das nicht genug, gängeln sie Bund und Länder auch noch mit der Vorschrift, bei der Registrierung der Menschen auf eine neue Software umzustellen. Das Programm nennt sich Sachanwendung zur Registerführung, Erfassung und Erstverteilung, kurz Free.
Beim Bayerischen Landkreistag ist man darüber ziemlich unzufrieden. „Es ist eine Binsenweisheit, dass man nicht mitten im Katastrophenfall die Software wechselt“, schimpft Thomas Karmasin (CSU), Landrat von Fürstenfeldbruck und als 1. Vizepräsident kommissarisch den kommunalen Spitzenverband führend. „Es mag ja gute Gründe für und fachliche Verbesserungen durch Free geben – aber der Einführungszeitpunkt ist der denkbar ungünstigste. Wir haben alle Hände voll zu tun, um die Geflüchteten schnellstmöglich zu registrieren, damit sie die ihnen zustehenden Leistungen bekommen können. In dieser hoch belasteten Phase eine neue Software einzuspielen, stellt die Praxisferne der Entscheidungen aus Berlin unter Beweis“, ätzt Karmasin.
Mehrfacherfassungen sind nicht auszuschließen
Hintergrund: Die Verteilung von Personen, die ein Schutzgesuch für eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz geäußert haben, erfolgte bislang über das sogenannte Easy-System für die Erstverteilung von Asylsuchenden. Es ist ein rein fallbasiertes Verteilungssystem, welches lediglich die Merkmale „aufnehmendes Bundesland“, „Herkunftsland“ und die Familienzusammensetzung kennt.
Allerdings hat Easy – dem Wortsinn des Akronyms zum Trotz – auch gewisse Nachteile: Mehrfacherfassungen und -verteilungen können so nicht ausgeschlossen werden. „Jeder weiß aber, welche Herausforderungen eine Softwareumstellung und ein Datentransfer schon zu normalen Zeiten üblicherweise mit sich bringen“, erläutert der Landkreistagschef. „Und nun sollen wir uns auch noch damit rumschlagen.“, ärgert sich der 1. Vizepräsident.
Im Bundesinnenministerium ist man sich keiner Schuld bewusst. „Die Software Free wird insbesondere eingeführt, um den Wunsch der Bundesländer nach einer verbindlichen, gerechten und solidarischen Verteilung der Geflüchteten aus der Ukraine zu ermöglichen“, sagt eine Sprecherin von Ressortchefin Nancy Faeser (SPD) zur Staatszeitung – auch ein kleiner Seitenhieb auf den Freistaat. Dessen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte schon zu Beginn des ukrainischen Flüchtlingsansturms gemahnt, Bayern dürfe nicht erneut – wie bereits 2015 geschehen – überproportional stark in Anspruch genommen werden.
Viele wollen nicht aufs Land, nur in Großstädte
Auf der Konferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsident*innen der Länder vom 7. April 2022 habe man deshalb beschlossen, dass Free in den Ankunftszentren, Aufnahmeeinrichtungen und Ausländerbehörden „zügig überall eingeführt und optimiert wird“. Im Klartext: Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU) hat ausdrücklich befürwortet, was sein Parteifreund vom Landkreistag nun ausschließlich dem Bund in die Schuhe schieben möchte.
Dazu nochmals die Sprecherin von Bundesinnenministerin Faeser: „Mit Free lassen sich außerdem – anders als mit Easy – unmittelbar integrationsförderliche Faktoren wie beispielsweise familiäre Bindungen und vorhandener Wohnraum berücksichtigen. Die Verteilung erfolgt automatisiert. Free ermöglicht somit bereits vor der Registrierung im Ausländerzentralregister eine individualisierte und nachvollziehbare Verteilung auf die Länder und Kommunen. Die Verteilungen sind nachvollziehbar und Mehrfacherfassungen können verhindert werden.“ Also genau das, was die Staatsregierung vorab forderte. Außerdem hätten die Länder die neue Anwendung bereits über mehrere Wochen vorab testen können, so die Sprecherin des Bundesinnenministeriums. Warum das in Bayern nicht geschehen sei, wisse sie nicht.
Auch angesichts des Verhaltens einiger ukrainischer Geflüchteter macht das Sinn: Mitunter weigern sich die Menschen nämlich, sich in kleinen ländlichen Gemeinden unterbringen zu lassen und fordern, in Großstädte gebracht zu werden.
Doch das ist nicht der einzige Ärger, der den Kommunen im Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle ins Haus steht. Laut dem Kompromiss zwischen Bund und Ländern vom 7. April 2022 werden die Menschen künftig nach den Regeln der Sozialgesetzbücher behandelt – was die Landkreise ebenfalls für wenig hilfreich erachten. „Der gefundene Kompromiss wird weder den Bedürfnissen der geflüchteten Menschen noch den finanziellen Belastungen für die Landkreise gerecht. Zudem führen beide Maßnahmen zu einem enormen unnötigen bürokratischen Aufwand“, kritisiert Thomas Karmasin.
„Werden vorhersehbar keinen Wohnraum finden“
„Bisher sind die Landratsämter für die Unterbringung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zuständig. Wir haben Unterkünfte angemietet und allen schnellstmöglich ein Dach über dem Kopf besorgt. Künftig sind wir dafür nicht mehr verantwortlich – mit dem Wechsel in das SGB II und SGB XII endet die Unterbringungspflicht der Landkreise und die Geflüchteten müssen aus den Unterkünften ausziehen. Wenn diese Menschen dann vorhersehbar keine Wohnung finden, sind sie obdachlos und müssten streng genommen von den Gemeinden in eigener Verantwortung untergebracht werden. Das will niemand“, so der Politiker.
Würden die Menschen aus der Ukraine dennoch in den von den Landkreisen bereitgestellten Unterkünften wohnen bleiben, müssten den Landkreisen aber die Kosten der Unterkunft auch vollständig vom Staat erstattet werden, mahnt Karmasin. (André Paul)
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